Guntherus de Thuringia
15495

Walther von der Vogelweide (um 1170 – um 1230): Das Palästinalied

Mittelhochdeutscher Originaltext mit neuhochdeutscher Übersetzung, und eine neuhochdeutsche Nachdichtung

Walther von der Vogelweide, Codex Manesse (erstellt 1305-1315; Universitätsbibliothek Heidelberg; Weltkulturerbe)

Im Gelobten Lande

Nun erst ist mir wert mein Leben,
Seit mein sündig Auge sieht
Heilig Land, wo Wunder weben.
Preist dies Land im Lobeslied!
Mein ist, was ich einst erbat,
Da ich schauen darf den Pfad,
Welchen Gott als Mensch betrat.

Schöne Lande, segensreiche,
Hab ich Wandrer viel gesehn.
Keines, das sich dir vergleiche:
Was sind Wunder hier geschehn!
Eine Magd ein Kind gebar
Hehr vor aller Engel Schar:
Ob das nicht ein Wunder war!

Hier ließ sich der Reine taufen,
Daß der Mensch gereinigt sei;
Hier dann ließ er sich verkaufen,
Und Leibeigne wurden frei.
Ohne Kreuz und Speer und Dorn
Wären alle wir verlor'n.
Heiden, das weckt euren Zorn!

Daß er unser sich erbarme,
Starb er hier den grimmen Tod –
Er, der Reiche, für uns Arme,
Daß wir kämen aus der Not.
Willig litt er schlimmstes Los.
Dies ist Wunder übergroß,
Wunder aus der Gottheit Schoß.

Nieder zu der Hölle Schlunde
Aus dem Grabe fuhr der Sohn,
Dem der Vater war im Bunde
Und der Geist von Anfang schon.
Niemand löset dieses Band,
Das von je die drei umwand,
Wie es Abraham erkannt.

Jäh warf er den Teufel nieder,
Wie kein Kaiser siegt im Streit,
Kehrte dann zur Erde wieder;
Da begann der Juden Leid:
Daß er ihre Hut durchbrach,
Mit den Seinen ging und sprach,
Den ihr Haß doch schlug und stach.

Hier verblieb der Wunderreiche
Vierzig Tage, fuhr dann frei
Heim zu seines Vaters Reiche;
Seinen Geist, der mit uns sei,
Hat er uns herabgesandt:
Heilig ist dasselbe Land,
Wird vor Gottes Thron genannt.

Diesem Land hat er verheißen
Eine schreckensvolle Zeit,
Wenn die Armen, Witwen, Waisen
Lang genug in Niedrigkeit,
Land in Leiden mannigfalt
Unterworfen der Gewalt.
Wohl dem dort, der hier entgalt!

Unsers Richteramts Gebrechen
Hemmt nicht mehr des Rechtes Lauf;
Denn er selbst kommt, Recht zu sprechen,
Zieht der Jüngste Tag herauf.
Wer noch schuldet, weh ihm dann
Dort, wo der verlaßne Mann
Keinen Bürgen haben kann.

Laßt ihr euch des nicht verdrießen,
Was gesprochen hat mein Mund,
Will ich jetzt die Rede schließen
Und in Kürze machen kund:
Was der ew'gen Freiheit Macht
Hat von Anbeginn erdacht,
Hier begann's und wird's vollbracht.

Christen sagen, Juden, Heiden,
Daß dies Land ihr Erbe sei;
Möge Gott den Streit entscheiden –
Er bei seiner Namen Drei.
Alle Welt begehrt dies Land;
Unser Recht ward anerkannt;
Uns geb er es in die Hand!

__________

Heinrich Lützeler, Die christliche Dichtung des deutschen Volkes, Bonifatius-Druckerei, Paderborn [1925], S. 93-95.

***

1. Nû alrêst lebe ich mir werde,
sît mîn sündic ouge siht
daz hêre lant und och die erde,
dem man vil der êren giht.
Mirst geschehen, des ich ie bat,
ich bin komen an die stat,
dâ got menschlîchen trat.


Nun erst lebe ich mir würdig,
weil mein sündiges Auge
das hehre Land und auch die Erde sieht,
die man so vieler Ehren rühmt.
Nun ist geschehen, worum ich immer bat:
ich bin an den Ort gekommen,
den Gott als Mensch betrat.

2. Schœne lant, rîch unde hêre,
swaz ich der noch hân gesehen,
sô bist dûz ir aller êre,
waz ist wunders hie geschehen:
Daz ein maget ein kint gebar,
hêre uber aller engel schar,
was daz niht ein wunder gar?


Schöne Länder, reich und herrlich,
welche ich da noch gesehen habe,
du übertriffst sie alle.
Welche Wunder sind hier geschehen!
Dass eine Jungfrau ein Kind gebar,
hoch erhaben über aller Engel Schar,
war das nicht etwa ein Wunder?

4. Hie liez er sich reine toufen,
daz der mensche reine sî.
dô liez er sich hie verkoufen,
daz wir eigen wurden vrî.
Anders wæren wir verlorn.
wol dir sper, cruze unde dorn!
wê dir, heiden! daz ist dir zorn.


Hier ließ er sich rein taufen,
damit der Mensch rein werde.
Dann ließ er sich hier verkaufen,
damit wir Unfreien frei würden.
Sonst wären wir verloren.
Wohl dir, Speer, Kreuz und Dorn(enkrone)!
Weh dir, Heidenschaft! Das erregt deinen Zorn.

5. Dô er sich wolte über uns erbarmen,
hie leit er den grimmen tôt,
er vil rîche über uns vil armen,
daz wir komen ûz der nôt.
Daz in dô des niht verdrôz,
daz ist ein wunder alze grôz,
aller wunder übergenôz.


Als er sich unser erbarmen wollte,
erlitt er hier den grimmigen Tod,
er, der mächtige, um uns Armer willen,
damit wir gerettet würden.
Dass er das nicht ablehnte,
das ist ein allzugroßes Wunder,
größer als alle anderen Wunder.

6. Hinnen vuor der sun zer helle,
von dem grabe, dâ er inne lac.
des was ie der vater geselle,
und der geist, den nieman mac
Sunder gescheiden, dêst al ein,
sleht unde ebener danne ein zein,
alse er Abrahâm erschein.


Von hier fuhr der Sohn zur Hölle,
aus dem Grab, darin er lag.
Daher, was der Vater immer vereinte
und der Geist, den nichts
von ihnen scheiden kann: sie sind alle Eins,
schlicht und ebener als ein Pfeilschaft,
wie er Abraham erschienen war.

7. Dô er den tievel dô geschande,
daz nie keiser baz gestreit,
dô vuor er her wider ze lande.
dô huob sich der juden leit,
Daz er hêrre huote brach,
und daz man in sît lebendic sach,
den ir hant sluoc unde stach.


Nachdem er dort den Teufel besiegte,
wie nie ein Kaiser besser kämpfte,
kam er wieder in dieses Land zurück.
Damit begann das Leid der Juden,
weil er, der Herr, ihrer Haft entkam
und man ihn später lebend sah,
den sie erschlugen und erstochen haben.

8. Dar nâch was er in deme lande
vierzic tage, dô fuor er dar,
dannen in sîn vater sande.
sînen geist er uns bewar,
Den sant er hin wider zehant.
heilic ist daz selbe lant,
sîn name, der ist vor got erkant.


Danach verweilte er in dem Land
vierzig Tage lang. Dann ging er dahin zurück,
von wo ihn sein Vater ausgesandt hatte.
Seinen Geist, der uns schützen möge,
sandte er sogleich wieder dorthin.
Dieses Land ist heilig,
denn sein Name stammt von Gott.

9. In diz lant hât er gesprochen
einen angeslîchen tac,
dâ die witwe wirt gerochen
und der arme clagen mac
Und der weise den gewalt,
der dâ wirt an ime gestalt:
wol ime dort, der hie vergalt.


In diesem Land hat er
einen schrecklichen (Gerichts)tag angekündigt,
an dem die Witwe gerächt wird
und der Waise klagen kann,
und (wie auch) der Arme, von der Gewalt
die man ihm angetan hat.
Wohl ihm dort, der hier vergalt!

10. Unserre lantrehtære tihten
fristet dâ niemannes clage,
wan er wil dâ zestunt rihten:
sô ist ez an dem lesten tage.
Und swer deheine schulde hie hât
unverebenet, wie der stât
dort, dâ er pfant noch bürgen hât.


(Nicht) wie unsere Landesrichter es täten,
wird da niemandes Klage aufgeschoben,
denn er wird dort zur Stunde richten,
so wird es sein am letzten Tag:
Wer hier irgendeine Schuld
unbeglichen hinterlässt, wie steht der da,
dort, wo er weder Pfand noch Bürgen hat!

11. Juden, Cristen unde heiden
jehent, daz diz ir erbe sî.
got sol uns ze reht bescheiden
dur die sîne namen drî.
Al diu welt, diu strîtet her:
wir sîn an der rehten ger,
reht ist, daz er uns wer.


Christen, Juden und Heiden
behaupten, dass dies ihr Erbe sei.
Gott müsste es gerecht entscheiden,
durch die drei seiner Namen.
Die ganze Welt bekriegt sich hier.
Wir sind mit unserer Bitte im Recht,
und daher ist es Recht, dass er sie uns gewähre.

12. Irlât iuch nit verdriezen,
daz ich noch gesprochen hân.
sô wil ich die rede entsliezen
kurzwîlen und ouch wizzen lân,
Swaz got wunders hie noch lie,
mit der welte ie begie,
daz huob sich dort und endet hie.


Nun lasst euch davon nicht verdrießen,
dass ich noch weitererzählt habe.
Ich will euch die Rede erklären
in aller Kürze und euch wissen lassen,
das was Gott mit den Menschen seither
an Wundern in der Welt begonnen hat,
das hat hier angefangen und wird hier enden.

__________

Aus: Palästinalied – Wikipedia
Anemone teilt das
181
Theresia Katharina
Hier der Nachweis der Aufschrift des Palästinaliedes.
Palästinalied. Der Tempelritterorden der Armen Ri…
Theresia Katharina
Theresia Katharina
Die mittelalterlichen Lieder sind überliefertes Kulturgut und erhaltenswert.
Theresia Katharina
Guntherus de Thuringia
Unsere alten deutschen Lieder in alt- und mittelhochdeutscher Sprache sind wieder in Schwang gekommen. Es gibt viele Vertonungen und Interpretationen, doch oft lässt die Aussprache zu wünschen übrig. Wenn man die nachfolgend angegebenen Regeln beachtet, ist schon viel geholfen: Mittelhochdeutsche Sprache – Wikipedia