Die Papstgegner

14. September 2011


Wo sie Recht haben. Und wo nicht.

Papst Benedikt XVI. kommt erstmals in offizieller Mission als Oberhaupt des Staates Vatikanstadt in seine Heimat Deutschland, nachdem er als Oberhaupt der Römisch-Katholischen Kirche 2005 Köln und 2006 seine Heimat im engeren Sinne (Bayern) besucht hat. Nicht alle heißen ihn willkommen, nur eine Minderheit von 44 Prozent der Deutschen freut sich einer Umfrage zufolge auf den Besuch des Papstes. Papstgegner rufen zu Protesten gegen den Papst auf. Auch gegen den Vatikan und die Katholische Kirche, wie man an den Äußerungen erkennt, mit denen sie mobil machen. Ich will mal sehen, was von eben diesen Äußerungen zu halten ist.

Ich sehe im Wesentlichen fünf Bereiche, in denen im Vorfeld des Deutschlandbesuchs Benedikts gegen den Papst bzw. das Papsttum im Besonderen und den Katholizismus resp. „die Kirche“ im Allgemeinen mobil gemacht wird: theologisch-ekklesiologische, ökonomisch-fiskalische, politische, historische und ethische (besser: moralische, noch besser: moralistische) Aspekte sind in den Positionen der Papstgegner wiederzufinden, wenn man von biographischen Bemerkungen und persönlichen Beleidigungen einmal ganz absieht. Die Gesichtspunkte der Papstgegnerschaft liegen in den Stellungnahmen nicht immer säuberlich getrennt vor, sondern werden bis zur Unkenntlichkeit miteinander verwoben. Auch wenn es angesichts dessen schwer fällt und die oft sehr wirren Behauptungen so wirr sind, dass sie noch nicht einmal falsch werden können, ist es wohl die Aufgabe der Diskursanalyse, Schneisen in die Argumentation zu schlagen, sie zumindest in ihren verwertbaren Teilen satisfaktionsfähig zu machen und die Diskussion damit einigermaßen zu ordnen. Ich will das versuchen.

Das Auto ist ein Pferd mit Rädern

Dabei stoße ich allerdings auf das bekannte Meta-Problem einer Analyse dessen, was Menschen mit areligiös-kirchenferner Brille über Religion und Kirche sagen: Soll ich mich auf diese Ebene einlassen und mich mit dem Ergebnis dessen befassen, das sich unweigerlich einstellt, wenn man die Aussagen des Papstes (und anderer Kirchenvertreter) unterschiedslos über den Kamm eines diesseitsorientierten sozio-systemischen Diskurses schert, unter Ausblendung dessen, um das es eigentlich geht: den Glauben? Es ist klar, dass jemand, der nicht glaubt, der Kirche ihr religiöses Innere absaugt und sich allein die äußere Struktur der Institution vornimmt, doch ist das dann noch die Kirche? Sagt uns der Skelett eines Menschen etwas über den Menschen. Etwas ja, aber auch das Entscheidende? Das Wesentliche? Wer die Kirche bloß als weiteren gesellschaftspolitischen Agenten neben Gewerkschaften, Parteien und den DOSB stellt und sie nur als Debattenbeiträgerin versteht (sie nur so verstehen kann), verfehlt damit den Kern dessen, was Katholizismus bedeutet, zumindest denen bedeutet, die katholisch sind.

Das ist ein sehr grundlegendes Problem im Verhältnis von Kirche und Staat, Religion und Gesellschaft. Der Verfassungsrechtler Udo Di Fabio (Gewissen, Glaube, Religion. Wandelt sich die Religionsfreiheit?, 2008, Rezension) warnt in diesem Zusammenhang davor, Religionen als „Subsysteme des Politischen“ misszuverstehen, „deren Bekundungen ohne sonderliches Verständnis für die Identität einer Religionsgemeinschaft dann als bloße Beiträge im politischen Diskurs behandelt und kritisiert werden“. Genau das passiert aber immer wieder, gerade wenn es um die Katholische Kirche geht, wie auch die Einlassungen der Papstgegner deutlich zeigen, die – je informeller, desto eindeutiger – um die Themen „Geld“ und „Macht“ kreisen, mithin um das, was im Feld der Politik sonst auch immer Thema ist. Wer nur Pferde kennt, erkennt auch im Automobil ein Pferd, nämlich eines mit vier Rädern, das keine Hufeisen braucht.

Um nicht von der anderen Seite her missverstanden zu werden: Kirche ist nicht vollkommen apolitisch. Denn es muss für die Kirche gleichwohl möglich bleiben, auf Prozesse der politischen Meinungs- und Willensbildung einzuwirken (so wie das auch der FC Bayern in Fragen, die ihn unmittelbar oder mittelbar betreffen, tun können sollte), aber Politik ist nicht das Kerngeschäft der Kirche (oder des FC Bayern). Das sollte man im Hinterkopf behalten.

Wovon ich gar nicht erst sprechen will

Ich komme zu den fünf Aspekten. Was ist von den Behauptungen zu halten? Kurz: Es ist eine Sammlung von teilweise wissenschaftlich widerlegten und teilweise sehr tendenziösen Positionen. Also: Was nicht nachweislich falsch ist, ist so verdreht, dass es nicht mal mehr falsch sein kann. Das wiederum gilt es nachzuweisen. Ich will dabei gar nicht spitzfindig werden und sagen, dass die religiöse Neutralität des Verfassungsorgans Bundestag, die einige für verletzt halten, durch den Gast gar nicht verletzt werden kann, weil sich der Papst bekanntlich auf Staatsbesuch befindet, als Oberhaupt eines Staates, der – wie einige andere Staaten auch – als Konstitution eine Konfession hat, der aber deshalb ein Staat bleibt. Und sein Oberhaupt bleibt ein Staatsoberhaupt. Mit dem gleichen Recht könnte man sonst gegen die Rede eines israelischen Staatsoberhaupts demonstrieren, denn die Bedeutung des Judentums ist ebenso konstitutiv für Israel wie die Bedeutung des Katholizismus für den Vatikan. Aber, nein: Diese Feinheiten zu übersehen gestehe ich den Papstgegnern in ihrer Raserei durchaus zu, Hass macht bekanntlich blind. Auch die Doppelmoral, die sich hinter einer ausschließlich auf Papst und Kirche fixierten Religionskritik verbirgt, wie diese von den Medien so erstaunlicher- wie erfreulicherweise in den letzten Wochen immer mal wieder thematisiert wird (etwa im Bayrischen Rundfunk oder im Tagesspiegel), ist nicht mein Thema. Es geht mir um was anderes: um Inhalte. Heuchelei nachzuweisen ist das eine, Fehler in der Darstellung das andere. Es geht mir vornehmlich um letzteres. Da will ich mich gar nicht vor der Weiterung von Papst auf Vatikan und von Vatikan auf Katholizismus drücken. Ich bin mir zudem bewusst, dass das Verfassen eines solchen Artikels im Grunde vergebene Liebesmüh ist oder – weniger poetisch – Zeitverschwendung. Die, die ihn lesen, kennen die Fakten, die, die sie offensichtlich nicht kennen, werden ihn nicht lesen. Was soll’s.

Aus dem zuletzt zitierten Tagesspiegel-Artikel stammt die hier diskutierte Position der Papstgegner. Dort steht nämlich: Zur Begründung [für das Fernbleiben bei der Rede des Papstes und die Teilnahme an der Demonstration gegen den Papstbesuch, J.B.] heißt es in diversen Publikationen: Der Papst sei „das Staatsoberhaupt des einzigen explizit antidemokratischen Staates in Europa“, der Vatikan habe „eng mit den deutschen und italienischen Faschisten kooperiert“, die Glaubenskongregation im Vatikan, an deren Spitze Joseph Ratzinger lange Zeit stand, sei „die Nachfolgerin der Inquisition, die im Mittelalter für die Hexenverfolgung verantwortlich war“, die Moral der katholischen Kirche sei sexualfeindlich, frauenfeindlich und homophob, die Aussagen zur Aidsverhütung „verbrecherisch“. Dies sei die zugrunde zu legende Position. Sie soll um einige andere Aspekte der gängigen Papstgegnerschaft ergänzt werden.

Theologisch-ekklesiologisches

Der Papst, so heißt es, „hemme die ökumenischen Bemühungen“. Nun, soweit diese darauf hinauslaufen, aus Katholiken Protestanten zu machen, erwarte ich das auch von ihm. Darüber hinaus setzt sich der Papst – wie schon sein Vorgänger – verstärkt für die Ökumene mit den Schwestern und Brüdern der orthodoxen Christenheit ein, die hierzulande gerne vergessen werden, in Europa aber nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Für viele evangelische, aber auch katholische Christen hierzulande ist die Betonung des ausschließlich auf die Römisch-Katholische Kirche bezogenen Kirchenbegriffs durch Papst Benedikt XVI. eine bittere Enttäuschung. Man darf dabei aber zweierlei nicht vergessen: Erstens, dass der Papst nur das wiederholt hat, was sowieso Stand der Dinge ist und zweitens, dass der Papst Oberhaupt der Weltkirche ist und – auch als Deutscher – auf deutsche Sonderbefindlichkeiten keine Rücksicht nehmen kann. Die Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche (2007) kamen wenige Wochen nach der Brasilienreise, wo Benedikt zur Kenntnis nehmen musste, in welch tiefer Krise die Kirche im größten lateinamerikanischen Land steckt, weil die Katholiken ihrer Kirche zunehmend den Rücken kehren und in den letzten Jahren vermehrt zu den eifrig werbenden evangelikalen Freikirchen gewechselt sind. Hier tut Abgrenzung Not. Nicht jeder, der kostenlos Milch und Müsliriegel verteilt und spirituelle Angebote unterbreitet, kann „Kirche“ im eigentlichen Sinne sein – bei allem Respekt vor dem jeweiligen Bekenntnis. Der starre Kirchenbegriff des Vatikan (nur die Römisch-Katholische Kirche ist wahrhaft „Kirche“), den im Lande Luthers kaum jemand versteht, hat jedenfalls seine Vorgeschichte in der Auseinandersetzung des amerikanischen Klerus (die Hälfte der Katholiken lebt in Amerika) mit diesen neuen, dynamischen Strömungen des Proselytismus, die oft genug Anlaß geben zu zweifeln, ob auch überall Kirchlichkeit drin ist, wo „Kirche“ drauf steht. Insoweit schafft die erwähnte Verlautbarung, so schmerzlich sie sein mag, vor allem eines: Klarheit.

Ferner wird kritisiert, der Papst verhindere eine Öffnung der Kirche hin zu verheirateten Priestern und Priesterinnen – verheiratet oder unverheiratet. Tatsächlich: Unter Benedikt bleiben theologische Debatten um den Zölibat und das Ordinariat der Frau das, was sie bleiben sollten: theologische Debatten. In Sacramentum Caritatis (2007) wird die Bedeutung des Zölibats für die Radikalität eines christlichen Lebensstils, bei dem sich sakramentale Kompromisse (hier: Ehe und Priesterweihe) ausschließen, betont: „Es ist notwendig, den tiefen Sinn des priesterlichen Zölibats zu bekräftigen, der zu Recht als ein unschätzbarer Reichtum betrachtet wird. In dieser Wahl des Priesters kommen nämlich in ganz eigener Weise seine Hingabe, die ihn Christus gleichgestaltet, und seine Selbstaufopferung ausschließlich für das Reich Gottes zum Ausdruck. Deshalb reicht es nicht aus, den priesterlichen Zölibat unter rein funktionalen Gesichtspunkten zu verstehen. In Wirklichkeit stellt er eine besondere Angleichung an den Lebensstil Christi selbst dar.“ Der Priester im Stile des Herrn – darunter geht es nicht, auch nicht, wenn man mit dem Wechsel zu einem „modernen Lebensstil des Priesters“ in populistischer Weise punkten könnte.

Das gilt für viele Fragen theologischer Art, die auf den Kirchenbegriff und das Amtsverständnis ausgerichtet sind. Das bedeutet nicht, dass darüber im Rahmen der Ökumene nicht gesprochen werden darf. Es kann aber bei diesen Gesprächen nicht darum gehen, jeweils einige egozentrische Wünsche als „erfüllt“ abzuhaken oder von Benedikts Pontifikat Impulse zu verlangen, die nur der kurzfristigen Imageverbesserung dienen. Die Kirche hat die Aufgabe, ihren Mitgliedern zu helfen, das Seelenheil zu gewinnen – und nicht hohe Sympathiewerte in Umfragen unter Nicht-Mitgliedern. Es hat keinen Sinn, überstürzt Forderungen von außen nachzugeben, zumal sich hinter diesen doch nur verbirgt, dass hier ein Schatz vorhanden ist, den es zu bewahren gilt, wie Norbert Bolz feststellte: „Zölibat ist Askese, und Askese ist etwas, das für unsere Gesellschaft unerträglich ist, das absolut Nicht-Säkularisierbare. Es gibt zwar alle möglichen Formen von Konsum und Befriedigung, aber Askese, also der freiwillige Verzicht auf Möglichkeiten, ist für die offizielle Selbstbeschreibung einer säkularen bürgerlichen Gesellschaft ein Skandal. Die Leute wittern, dass hinter der Askese Macht steckt, und das reizt sie bis aufs Blut.“ Dem Papst sollte also egal sein, wie hoch die Wellen der Wut schäumen. So als Fels, meine ich.

Ökonomisch-fiskalisches

Na, klar: Wie könnte es anderes sein! Der Papstbesuch „verschlingt Millionen“, alles „Steuergelder“. Tenor: Die Kirche wälzt sich in ihrem Reichtum, das Volk darbt elendig dahin und wird seit Jahrhunderten von eben jener Kirche ausgepresst, kann sich aber einfach nicht dagegen wehren, weil der Vatikan nach wie vor die ganze Welt fest in seinen raffgierigen Klauen hält. Soweit der Kenntnisstand, der regelmäßig unter Papstgegnern anzutreffen ist. Ich habe zum Thema „Prunk & Protz“ schon mal was geschrieben, das sollte als Einführung reichen.

Ansonsten stimmt es freilich: Die Kirche ist reich. An Tradition, an Weisheit und an Kunstschätzen. Aber, wenn es um die Reparatur einer Tür im Gemeindesaal einer Ortspfarrei geht, müssen die Kirchgänger schon in die eigene Tasche greifen. Vor allem, wenn die Pfarrei in einem Bistum liegt, das kurz davor war(?), Insolvenz anzumelden. So reich ist die Kirche. Reichtum ist außerdem relativ. Würde das Vermögen der zehn reichsten Menschen der Welt mit 5 Prozent verzinst, hätten diese pro Jahr etwa 22 Milliarden US-$ allein an Kapitaleinkünften, 62mal mehr als der Vatikan im Jahre 2008 Gesamteinnahmen hatte.

Zu den Kosten des Papstbesuchs: Die Veranstaltungskosten i.H.v. ca. 25 Millionen Euro zahlen die Bistümer aus eigenen Mitteln. Hier dürfen sich Kirchensteuerzahler aufregen, aber nicht die Steuerzahler insgesamt. Zum Vergleich: Der G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 hat 120 Mio. Euro gekostet (90 Mio. Land MVP, 30 Mio. Bund); allein der Sicherheitszaun hat 13 Mio. Euro gekostet. Jeder Castor-Transport kostet etwa 25 Millionen, also soviel, wie der Papst-Besuch die Kirche (nicht den Staat!) kostet.

Es ist darüber hinaus schwierig, zu einer seriösen Rechnung für den Papstbesuch in Deutschland zu kommen, zumal man hier nicht nur zwischen Kirchensteuerzahler und Steuerzahler unterscheiden muss, sondern auch zwischen Kosten von Bund, Ländern und Kommunen, ferner zwischen unmittelbaren Kosten für den Staat (Schutz des Papstes) und dessen mittelbaren Kosten (Polizeiaufgebot anlässlich der Gegendemonstration). Auch ist unklar, wie hoch die Einnahmen aus Sponsoring und Merchandising sein werden. Die Ausgaben der Pilger und die damit verbundenen Mehreinnahmen für Gewerbetreibende in Berlin, Erfurt und Freiburg steigern zudem nicht das Steueraufkommen (wie das in Madrid beim WJT der Fall war), weil das Geld ja von Inländern ausgegeben wird, die sonst ihr Bier statt in Erfurt eben in München oder in Köln getrunken hätten. Das bringt dem deutschen Fiskus in der Endabrechnung nichts. Allenfalls das Transport- und Hotelgewerbe profitiert per Saldo, beim Einzelhandel kommt es im Wesentlichen nur zur Umverteilung.

Das ist alles recht komplex und man wird – wie immer – verschiedene Rechnungen aufmachen. Wie dem auch sei: Der moralinsaure Verweis auf den Hunger in Afrika ist und bleibt in einem Land, wo binnen fünf Tagen jene 25 Mio. Euro für Schokolade ausgeben werden (nicht einmal, sondern immer wieder!), dieser Verweis ist und bleibt – auch wenn er von einem Qualitätsmedium kommt und nicht von einem anonymen Kommentator im einschlägigen Forum – unangebracht. Nein: Pervers.

Mehr gibt es dazu von meiner Seite nicht zu sagen. Entschuldigung.

Politisches

Geht es um die Kirche, wimmelt es förmlich von Demokratietheoretikern. Der Papst, so heißt es dann, sei „das Staatsoberhaupt des einzigen explizit antidemokratischen Staates in Europa“, eine Art „Diktator“.

Hier muss man – was nicht unbedingt zu den Stärken derer zählt, die solche Behauptungen aufstellen – differenzieren: 1. Die Konstitution des Vatikan (und der Kirche), 2. deren Gründe und 3. die Rolle der Kirche für die „moderne Demokratie“. Dann kommt man schnell dahinter, dass „undemokratisch“ nicht „ungerechtfertigt“ und erst recht nicht „anti-demokratisch“ bedeutet.

Der Vatikan ist – wie die Mehrheit aller Staaten der Welt – keine Demokratie, das ist richtig. Die Katholische Kirche ist keine Demokratie – abgesehen von innerkirchlichen Gremien, die aber letztlich nicht die entscheidende Funktion für das Ganze haben, wie etwa Parlamente in demokratischen Systemen, und in denen nicht das Mehrheits-, sondern das Konsensprinzip vorherrscht bzw. vorherrschen sollte. Die Kirche ist deswegen keine Demokratie, weil es über die konstituierenden Glaubensinhalte keine Mitbestimmungsmöglichkeit seitens ihrer Mitglieder geben kann, weil ihnen das – nach ihrem eigenen Glauben! – nicht zusteht.

Es gibt aber ein anderes demokratisches Kernelement in der Kirche: die Rechtfertigung. Für den Gläubigen ist es gerechtfertigt, dass er kein Mitbestimmungsrecht hat, denn er glaubt ja selbst an eine Stiftung der Kirche durch Jesus Christus, den Sohn Gottes, und an den Petrus-Primat („Tu es Petrus…“). Von „außen“ betrachtet gilt dies freilich nicht als Argument, aber für die Katholiken ist genau das der Grund, den Papst als „Obersten Hirten“ oder „Verwalter des Gottesreichs auf Erden“ zu betrachten, oder auch als „Arbeiter im Weinberg“ oder „Diener der Diener Gottes“. Und nicht als „Diktator“.

Der Unterschied zum Diktator ist ja der, dass man sich 1. nicht aussuchen kann, ob man unter ihm leben möchte oder nicht (ob man in der Kirche ist und bleibt, kann man sich dagegen sehr wohl aussuchen) und 2. sich dieser i.d.R. keiner geteilten Rechtfertigungspraxis unterstellt (also im Beispiel der Kirche: keinem religiösen Glauben, der sich aus offenbarter Schrift und eigener Tradition). Interessant ist ja in diesem Zusammenhang, dass viele Diktatoren genau das versuchen, um vom Volk akzeptiert zu werden: eine quasireligiöse Rechtfertigung ihrer Diktatur aufzubauen (Hitler sprach in diesem Sinne immer von einer „Vorsehung“, die ihn zum „Führer“ der Deutschen bestellt habe!).

Es gibt in unserer Demokratie vieles, das nicht demokratisch ist, sehr wohl aber gelten gelassen wird. Wir haben zum Beispiel keine Mitbestimmungsmöglichkeit, ob wir bei „rot“ oder „grün“ über die Kreuzung fahren. Das ist festgelegt. Auch das kann man „diktatorisch“ nennen (richtig ist: es ist konventionalistisch, wie so vieles in unserem System, und es ist gerechtfertigt). Wer den Papst „Diktator“ nennt, kann mit dem gleichen Recht den Bundestrainer „Diktator“ nennen, schließlich bestimmt er ganz allein über die Aufstellung (Er muss sich aber auch gegenüber der interessierten Öffentlichkeit gegebenenfalls dafür rechtfertigen!). Auch solche „nicht-demokratischen“ Systeme können die Demokratie stärken. Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, seines Zeichens Agnostiker, ist der Meinung, dass das auch und gerade für die Katholische Kirche gilt.

Von „antidemokratisch“ kann also in Bezug auf die Kirche nicht die Rede sein. Für sich selbst – aus (im Glauben) nachvollziehbaren Gründen – keine demokratische Konstitution in Anspruch zu nehmen, bedeutet eben nicht automatisch schon eine Gegnerschaft zur Demokratie. Der Wert der Kirche für die Demokratie liegt nicht nur in ihrer sinnstiftenden Funktion für viele Bürger, in der Motivation, sich für das Gemeinwesen einzubringen. Man muss nicht selbst ein Haus sein, um ein solches in Schuss zu halten. Die Katholische Kirche, so Udo Di Fabio, sei nicht nur kein „antidemokratischer“ Hemmschuh für unsere offene Gesellschaft, sondern „unentbehrlich für die lebendige Demokratie“, denn: „Schwinden die bestehenden religiösen Kräfte, so wird die Demokratie sich in Bürokratie und paternalistische Sozialtechnologie verwandeln“. Für einige Papstgegner scheint genau das der Traum eines neuen Utopia zu sein.

Historisches

Auch historisch lässt sich die Bedeutung der Katholischen Kirche für die deutsche Demokratie ablesen. Noch einmal Di Fabio: „Im Geltungsbereich des Grundgesetzes war Religion nach 1949 eine große, wiederentdeckte kulturelle Ressource. Man hatte erlebt, dass in den schlimmsten Diktaturen des 20. Jahrhunderts erst Gott und Demut missachtet, bekämpft und verhöhnt wurden und dann Menschen mit Füßen getreten. Die vom Nationalsozialismus massenhaft in Verbrechen verstrickten Mitläufer füllten wieder die Kirchen, es war gewiss Scham dabei, aber auch eine Ahnung, auf welchem Fundament die künftige Demokratie würde ruhen müssen.“ Die Kirche als Fundament der Demokratie, nicht als „anti-demokratischer“ Fundamentalismus.

Und da, wo das Grundgesetz nicht galt, im Osten Deutschlands? Dort konnte die Demokratie erst wieder einziehen, nachdem sie in anderen ehemals kommunistischen Staaten des Ostblocks Fuß fassen konnte, zum Beispiel im Nachbarland Polen, in dem es die vom polnischen Papst gestützte Katholische Kirche war, die mithalf, den Kommunismus zu stürzen.

Doch davon ist bei Papstgegnern nicht die Rede. Die Geschichte der Kirche, so wie sie von ihren Gegnern gezeichnet wird, zerfällt in Neuere und Mittelalterliche Geschichte, genauer: in „Nazi-Zeit“ und in „Hexen-Zeit“.

Nazi-Zeit

Der Vatikan habe „eng mit den deutschen und italienischen Faschisten kooperiert“, heißt es.

Das kann man so sagen, ist aber in dieser Beliebigkeit inhaltsleer, denn auch Kroatien, Finnland, Spanien, Rumänien und zeitweilig sogar das Vereinigte Königreich haben „eng mit den deutschen und italienischen Faschisten kooperiert“. Auch der in gewissen Papstkritikerkreisen immer noch erstaunlich hoch angesehene Stalin hat „eng mit den deutschen und italienischen Faschisten kooperiert“. Übrigens haben auch die Deutschen und Italiener selbst zu großen Teilen „eng mit den deutschen und italienischen Faschisten kooperiert“.

Die Behauptung soll wohl in die Richtung gehen, dass der Vatikan andere Möglichkeiten hatte als der Rest des kooperierenden Europa. So wird ein handfester Vorwurf draus: „Die Kirche hätte die Nazis stoppen und Auschwitz verhindern können, hätte ihr Oberhaupt, Papst Pius XII., nicht geschwiegen!“ Denn darauf bezieht sich die Rede von der „engen Kooperation“ vor allem, auf das angebliche Schweigen zur Shoa. Nun, heute weiß man, was man immer schon hätte wissen können, dass nämlich der Vorwurf des Schweigens in zwei Richtungen unsinnig ist.

1. Der Papst schwieg nicht. Die New York Times schrieb über die Weihnachtsansprache 1942, in der Papst Pius XII. die nationalsozialistische Verfolgung der Juden anprangerte: „In dieser Weihnacht ist der Papst mehr denn je die einsame aufbegehrende Stimme im Schweigen eines Kontinents.“ Wohlgemerkt: Der Kontinent schwieg, nicht der Papst. Die damalige israelische Außenministerin und spätere Premierministerin Golda Meir telegraphierte anlässlich des Todes von Papst Pius XII. (1958) an den Vatikan: „Wir trauern. Wir haben einen Diener des Friedens verloren. Als in dem Jahrzehnt des nationalsozialistischen Terrors unser Volk ein schreckliches Martyrium überkam, hat sich die Stimme des Papstes für die Opfer erhoben.“

2. Wenn der Papst schwieg, dann aus gutem Grund: „Pius musste Angst um sein Leben haben, noch mehr aber erschütterte ihn die Verschleppung der Juden. Ein Protest der holländischen Bischöfe wurde von den Nazis mit der Deportation von 40.000 Menschen beantwortet. Pius litt schwer darunter, formulierte einen Protest, gab die Handschrift dann aber [seiner Haushälterin, J.B.] Pascalina: ,Verbrennen Sie diese Bögen, es ist mein Protest gegen die grauenhafte Judenverfolgung. Heute Abend sollte er im Osservatore Romano erscheinen. Aber das würde vielleicht 200.000 Menschenleben kosten. Das darf und kann ich nicht verantworten. So ist es besser, in der Öffentlichkeit zu schweigen und für diese armen Menschen wie bisher in der Stille alles zu tun, was möglich ist.’” So Hans-Werner Scheidl in der Wiener Tageszeitung Die Presse (13.9.2008).

Papst Pius ist für alle aufrichtigen Menschen (papsttreu oder nicht) keineswegs der „skrupellose Schweiger“, sondern der „stille Retter“. Es schwieg nicht nur, um keine zusätzlichen Verfolgungswellen auszulösen, sondern half tatkräftig.

Er wusste, dass es diese tatkräftige Hilfe behinderte, wenn er sie mit lautem Getöse begleitet hätte, wenn sich die Kirche zu lautstark eingemischt hätte. Das zeigen die Folgen des offenen Protests der holländischen Bischöfe – angeführt vom Utrechter Erzbischof de Jong – Ende Juli 1942, auf den sich Pius bezieht, als er seinen Artikel verbrennen lässt und sich dafür entscheidet, statt eines Aufschreis „in der Stille alles zu tun, was möglich ist“. Was geschah in den Niederlanden? Nicht nur die Juden, sondern auch die „katholischen Nichtarier“ wurden Anfang August verschleppt (unter tausenden Anderen: Edith Stein), während die „evangelischen Nichtarier“ durch das Schweigen ihrer Bischöfe verschont blieben. Die Reaktion der Nazis auf den Protest der katholischen Bischöfe zeigt das Risiko einer offenen Intervention. Es fällt denen, die von „Kooperation“ sprechen, offenbar schwer zu begreifen, wie ein Mann in der Position des Papstes weniger auf spektakuläre Gesten und einen guten Nachruf aus ist, als auf die Rettung von Menschenleben. Und Menschenleben war Papst Pius XII. partout nicht zu opfern bereit, auch nicht für das Image des Vatikan.

Das ist auch christlicher Sicht durchaus verständlich, aber PR-taktisch ein fataler Fehler, denn symbolisches Handeln steht bedeutend höher im Kurs als tatsächliches Handeln. Das deckt sich auch mit der Erfahrung, dass es in der Beurteilung des moralischen Status der Kirche nicht auf deren tatsächlichen Einsatz für Menschen ankommt (also auf das Humane), sondern etwa auf die Frage, ob der Vatikan bestimmte Menschenrechtsdeklarationen unterzeichnet hat und sich damit formal an die Seite derer stellt, die darin die Lösung der Menschen- und Menschheitsprobleme angelegt sehen (also auf das Humanistische). Wer einfach nur hilft, muss heute damit rechnen, schlechter beurteilt zu werden als der, der sagt, dass Hilfe wichtig sei. Nota bene: Das ist grundsätzlich kein neues Thema. Schon Platon beschäftigt sich sehr ausführlich mit der Phänomenologie von „gut sein“ und „gut scheinen“.

Zwischenzeit“

Gehen wir weiter in die Geschichte zurück. Dass die Kritik am Papst oft sehr unreflektiert und wenig differenzierte Phrasen reproduziert, die erwiesenermaßen falsch sind, ist bedauerlich. Es mag aber in der historischen Begutachtung der Kirche bisweilen echte Zurechnungsunterschiede geben, Differenzen, die sich nicht ganz ausräumen lassen – die sehr enge Verbindung von Kirche und Staat eröffnet ein weites Spektrum an Zuschreibungsmöglichkeiten. Wer nun ursächlich für historische Gräuel war, lässt sich in einigen Fällen kaum abschließend beurteilen, hieße das doch, Systeme zu desintegrieren, die nur integriert verstanden werden können. Der Einfachheit halber der Kirche die ganze Schuld zu geben, ist bequem, aber unredlich. Das Problem liegt gerade darin begründet, dass die Rolle der Kirche damals der Kirchensicht ihrer Kritiker heute entspricht: Kirche als Machtfaktor, Religion als Politikum.

So kann man den Dreißigjährigen Krieg ebenso gut als Konfessions- wie als Konstitutionskonflikt rekonstruieren, je nachdem, welche Brille man aufsetzt, ähnliches gilt für die Mission in Afrika und Amerika. Wer es schlecht meint mit der Kirche, verweist auf die päpstliche Autorisierung der Mission durch Portugiesen und Spanier, die mit der Übertragung der missionierten Gebiete verbunden wurde und verschweigt, dass der Vatikan im Aushandlungsprozess zwischen Spanien und Portugal sehr bald nur noch nachrangig war und bloß die weltlichen Selbstautorisierungen der Renaissance-Supermächte absegnete. Wer es gut meint, verweist auf den innerkirchlichen Widerstand gegen die gewaltsame Kolonialisierung, weil und soweit diese gerade nicht der Mission diente.

Bei der Bewertung dieser Mission kommt es nun aber auch heute darauf an, wie sehr man sie 1. von den wirtschaftlichen und politischen Prozessen der Kolonialisierung trennt und 2. ob man damit eine „systemeigene“ Dimension der Beurteilung zulässt, also eine theologische Deutung historischer Ereignisse, die ursprünglich eine theologische Bedeutung hatten. Kann man also davon sprechen, dass die Christianisierung nicht das war, was sie mit Blick auf das Diesseits offensichtlich gewesen ist, nämlich das Aufzwingen einer fremden Kultur, sondern, mit Blick auf das Jenseits, die Erfüllung der universale Sehnsucht nach Erlösung durch Jesus Christus und das Evangelium? Darüber kann man streiten, vorausgesetzt man akzeptiert eine solche Sicht als diskutabel. Dazu gehört dann aber auch, kirchliches Handeln nicht nur unter „Macht“ und Religion nicht nur unter „Politik“ zu subsumieren.

Andere Fragen sind geschichtswissenschaftlich so eindeutig geklärt, dass man sich wundert, wie erwachsene Menschen heute immer noch mit falschen Antworten punkten wollen.

Hexen-Zeit

Doch sie tun es. Denn selbstverständlich verweisen die Papstgegner darauf, dass Papst Benedikt als Kardinal Ratzinger die Glaubenskongregation im Vatikan leitete, „die Nachfolgerin der Inquisition, die im Mittelalter für die Hexenverfolgung verantwortlich war“.

Auch wenn „Inquisition“ und „Mittelalter“ zum festen Begriffsinventar einer zünftigen Kirchenkritik gehören und diese Einrichtung bzw. diese Epoche eine große Faszination auszuüben scheint (deren Größe reziprok zur Kenntnis steigt), sollten erwachsene Menschen auch nicht für den vermeintlich „guten Zweck“ eine Aussage tätigen, die auf zwölf Wörtern zwei Fehler enthält und mit der man selbst als Pennäler unangenehm in Erscheinung tritt. Denn jeder Achtklässler sollte wissen, dass die Hexenverfolgung nicht im Mittelalter stattfand, sondern in der Frühen Neuzeit, und schon gar nicht unter der Verantwortung der Inquisition, nicht der Römischen und nicht der Spanischen. Das Gegenteil ist wahr: In Rom und in Spanien wurden wegen der Inquisition so gut wie keine Hexe verfolgt.

Mittelalterliche Hexenverfolgung“ gab es ebenso wenig wie „antike Weltraumstationen“. Was es gab, war eine frühneuzeitliche Hexenverfolgung, die im 16., 17. und 18. Jahrhundert zu 80 Prozent von protestantischen Landesfürsten organisiert wurde, nicht von der Kirche, schon gar nicht der Katholischen. Denn dass man nach 1555, spätestens nach 1648 nicht der Katholischen Kirche allein die Verantwortung für die verstärkte Hexenverfolgung in Mittel- und Nordeuropa geben kann, dürfte jedem klar sein, der zumindest etwas aufgepasst hat im Geschichtsunterricht („Cuius regio, eius religio.“ – Dämmert’s?). Dass hier schlecht informierte Menschen immer noch auf so stereotype wie einseitige Kritik an der Katholischen Kirche gleichgeschaltet werden sollen, tut nicht dem Katholiken weh, sondern dem Historiker.

Ähnliches gilt für die Rolle der „Inquisition“. Wie wir wissen, hat die Inquisition die Hexenverfolgung unterbunden, war also beileibe nicht für sie „verantwortlich“. Nur an einigen hundert der über drei Millionen Hexenprozesse (Schuldspruchquote: 1,5 Prozent) war die Inquisition beteiligt. Im katholischen Spanien hat es keine Hexenverfolgung gegeben – wegen der Inquisition. Auch in Italien sorgte die Inquisition dafür, dass so gut wie keine Hexe verbrannt wurde. In Rom – dem vermeintlichen Zentrum des Grauens – wurde nie eine Hexe oder ein Zauberer verbrannt. Die Katholische Kirche hat die Hexenverfolgung niemals offiziell bejaht. Verantwortlich für die Masse an Hexenprozessen war eine Hysterie im Volk, das aufgebracht nach Schuldigen für die (klimatologisch bedingten) Missernten und für andere Fehlentwicklungen suchte, die es (bei Lichte betrachtet) selbst zu verantworten hatte. Juristisch zuständig waren weltliche Gerichte.

Die Katholische Kirche war also gegen die Hexenverfolgung – im Gegensatz zu Luther und Calvin. Martin Luther war ein Verfechter der Hexenverfolgung, denn er war überzeugt von der Möglichkeit des Teufelspaktes und des Schadenszaubers. In einer Predigt vom 6.5.1526 sagte er über Hexen und Zauberer: „Sie schaden mannigfaltig. Also sollen sie getötet werden, nicht allein weil sie schaden, sondern auch, weil sie Umgang mit dem Satan haben.“ Fairer Weise muss man aber sagen, dass sowohl katholische wie auch protestantische Theologen gegen den Hexenwahn angekämpft haben (und nicht erst „die Aufklärung“!). Neben Jesuiten wie Spee und Laymann waren es etwa Johann Weyer und Anton Praetorius. Übrigens: Die schlimmste Hexenverfolgung findet heute statt, in Afrika, im Kongo., mit Tausenden Opfern jährlich. Dahinter steht nicht die Katholische Kirche. Auf eine Demonstration dagegen kann man also lange warten.

Ethisches, Moralisches, Moralistisches

Die Moral der Katholischen Kirche sei „sexualfeindlich“. Nun, denn. Wir werden wieder etwas weiter ausholen müssen.

Sexualmoral ergibt sich aus der Moral und Moral aus der Anthropologie. Es dürfte klar sein, dass das christliche Menschenbild einer geschöpflichen, gottebenbildlichen Personalität in Form einer leiblich-seelischen Wesenseinheit hier zu anderen Ergebnissen verleitet als konkurrierende Menschenbilder, die die Nähe menschlichen Verhaltens zum animalischen Trieb betonen (etwa den „Instinkt“ als moralisch leitende Kategorie einführen) und dessen Befriedigung zur Grundlage der Sexualität machen.

Anders die „Theologie des Leibes“, wie sie Benedikts Vorgänger, Papst Johannes Paul II verstand. Er führt im Grunde das fort, was – schöpfungstheologisch untermauert – in der katholischen Morallehre Tradition hat: Sex ist etwas von Gott für den Menschen Gewolltes, nicht nur wegen der Notwendigkeit der Fortpflanzung, sondern auch wegen der Möglichkeit, Vertrauen und Liebe auszudrücken. Sexualität hat aus kirchlicher Sicht mithin eine dreifache Bedeutung: die Erfahrung von Lust, die Vertiefung der Beziehung und die Offenheit für neues Leben.

Jedoch braucht es für die bedingungslose Hingabe der Partner (die im geschlechtlichen Akt gezeigt wird) Vertrauen und Liebe. Vertrauen und Liebe gibt es aber weder auf Probe noch auf Zeit, sondern nur ewig. Dies ist als Voraussetzung für „guten Sex“ nur in der Ehe zwischen Mann und Frau gegeben. Nur die Ehe ermöglicht eine zutiefst erfüllende Sexualität.

Der Kirche geht es darum, dass der Sex nicht verabsolutiert wird, sondern als „Körpersprache der Liebe“ (Schockenhoff) an die Personalität des Menschen gebunden bleibt, die sich in Verantwortung für den Partner zeigt, für seinen Geist, seine Seele und seinen Körper. Denn, auch wenn es antiquiert klingt: Sex verbindet. Schon deshalb, weil ein Kind daraus hervorgehen kann.

Selbstredend ist die Kirche auch „frauenfeindlich“. Also: die Katholische.

Es geht dabei nicht um das Zeugnis von Frauen, die in und mit ihrer Kirche glücklich sind (die überwiegende Mehrheit der praktizierenden Katholiken in Deutschland dürfte weiblichen Geschlechts sein), sondern um Zugang zur „Macht“. In der Tat: Frauen können kein Weiheamt bekleiden, nicht Diakon oder Priester werden, wofür es eine theologische Begründung gibt (über deren Überzeugungskraft man im theologischen Fachdiskurs streiten mag). Aber: Diskriminierung? Feindlichkeit?

Es ist doch gerade das christliche Menschenbild, das Mann und Frau auf eine Ebene stellt. Dessen Ausgangspunkt ist die Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen. Gott schuf den Menschen als sein Abbild, so steht es gleich dreimal hintereinander in Gen 1, 26-27: „Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“ Mann und Frau sind gleichermaßen Abbild Gottes und zur „Herrschaft“ aufgerufen und befähigt.

Diese „Herrschaft“ erschöpft sich – das mag jetzt wiederum die Papstgegner überraschen – eben nicht nur in „Macht“. Eine Frau, die in der Kirche einen Dienst verrichtet, als Küsterin oder Lektorin, wird von Gott ebenso geliebt wie der Papst. Oder ein Mann, der Küster oder Lektor ist. Oder beides.

Die „Herrschaft“ und meinetwegen auch die „Macht“ gehen niemals so weit, dass sie sich über Leben und Tod erheben dürfen. Das ist kirchliche Grundhaltung. Das Selbstbestimmungsrecht des Menschen endet spätestens dort, wo das Leben eines anderen Menschen zur Disposition steht. Das gilt auch für Frauen.

Und es gilt auch für das ungeborene menschliche Leben. Das sieht im übrigen nicht nur die Katholische Kirche, sondern auch der deutsche Staat so, denn eine Abtreibung ist immer ein Unrecht, das unter bestimmten Voraussetzungen straffrei bleibt. Ein Recht auf Tötung menschlichen Lebens aber kann es nicht geben. Mit oder ohne Kirche. Wenn ein Verweis darauf und auf die unveräußerliche Würde des Menschen in allen seinen Entwicklungsphasen „frauenfeindlich“ sein soll, dann darf die Kirche ruhig „frauenfeindlich“ sein. Solange sie eben nicht „menschenfeindlich“ wird.

Freilich sei die Katholische Kirche „homophob“.

Auch, wenn an den Lehraussagen der Kirche und an den Aussagen des Papstes beim besten Willen nichts „Homophobes“ zu finden ist. Der Katechismus fordert vom Katholiken, sich verständnis- und respektvoll gegenüber Homosexuellen zu verhalten, gleichwohl die Kirche Homosexualität nicht gut heißt, weil sie meint, dass der Mensch damit die Bestimmung, die ihm von Gott her zukommt, verfehlt: Mann und Frau zu sein, fruchtbar zu sein, gemeinsam zu „herrschen“. Es gelte – auch heute noch – die Schöpfungsordnung zu achten und zu beachten.

Der Grundsatz im Umgang mit Homosexuellen lautet: Jedem Menschen gebührt Respekt, aber nicht jedem Verhalten. Ich kann verstehen, dass das nicht ganz einfach zu verstehen ist. Dazu muss das Wesen des Menschen als eine Seinsqualität angenommen werden, die unabhängig von dem ist, was er tut oder sagt oder denkt. Darin leuchtet die unbedingte Würde des Menschen auf, die ebenso schöpfungstheologisch begründet ist, als eine von Gott gestiftete „Fremdwürde“. Hier schließt sich der Kreis von Schöpfung, Wesen und Würde und man erkennt eine Ordnung. Es steht viel auf dem Spiel (nämlich das Wesen des Menschen und seine Würde), wenn wir diese Schöpfungsordnung ad acta legen oder versuchen, sie nach Gutdünken auszuschlachten, um das herauszupicken, was heute gerade noch nützlich scheint. So geht das nicht, denn es geht ums Ganze: Wenn Sexualität für den Menschen wesentlich ist (und das ist sie), dann darf sie das Wesen des Menschen nicht verfehlen.

Das personale Wesen des Menschen zeigt sich in seiner vollen Gestalt nur in Mann und Frau. Wir erinnern uns: „Als Mann und Frau schuf er sie.“ Darin liegt die besondere Würde des Menschen, sein gottähnliches Wesen, das ihn als Geschöpf zum Abbild des Schöpfers macht. Im größten Geschenk des Schöpfers an sein Geschöpf, der Sexualität als Ausdruck der Liebe, sollen die getrennten Geschlechter wieder in vorbehaltloser Hingabe zusammenkommen. Das ist die Idee, die im übrigen dazu führt, dass es nach wie vor überhaupt noch Menschen gibt.

Vielleicht ergibt sich hieraus ein Ansatz, die kirchliche Position zur Homosexualität zu verstehen, die als Neigung – wie jede andere Neigung auch – respektiert wird. Vielleicht wird auch etwas klarer, warum die Kirche es jedoch als Verstoß gegen die Schöpfungsordnung ansieht, wenn Menschen durch das Ausleben ihrer homosexuellen Neigung dem Wesen des Menschen insoweit ganz bewusst eine Absage erteilen und damit ihre Würde als Mann oder Frau aufs Spiel setzen. Trotzdem wird man keine einzige Beleidigung eines Homosexuellen durch Papst Benedikt finden. Umgekehrt bin ich mir da nicht ganz so sicher.

Zu guter Letzt, so heißt es, seien die Aussagen Benedikts zur Bekämpfung der AIDS-Pandemie „verbrecherisch“ und „menschenverachtend“.

Das kann wirklich nur jemand sagen, der weder von den Aussagen, noch von AIDS eine Ahnung hat, denn Benedikts Aussagen decken sich zum großen Teil mit denen der UNO, bloß, dass der Papst eine stärkere Betonung der Enthaltsamkeit und Treue vornimmt, nicht nur, weil es die effektivsten Methoden sind, sondern insbesondere, weil es – wie ich oben zu zeigen versucht habe – dem christlichen Menschenbild und der darauf gründenden kirchlichen Auffassung zur menschlichen Sexualität entspricht.

Die Aussage, dass nicht Kondome die erste Wahl bei der AIDS-Bekämpfung sind, insbesondere wenn es um die Verhinderung von Neuinfektionen geht, sondern Keuschheit und Treue, ist erstaunlicherweise nur dann ein Skandal, wenn der Papst dies sagt. An der Riege professioneller Kirchenkritiker und Papstgegner scheint indes völlig vorbeigegangen zu sein, dass dies seit Jahrzehnten auch die Position der wichtigsten katholischen Hilfswerke sowie zahlreicher säkularer Einrichtungen in der AIDS-Bekämpfung ist.

Das bischöfliche Hilfswerk Misereor etwa teilt den Standpunkt des Papstes: „Viele Menschen in Europa verbinden mit dem Schutz vor AIDS vorschnell Kondomkampagnen. Wer aber meint, unter den Lebensbedingungen der Armutsregionen wären sie das Mittel in der AIDS-Bekämpfung, greift viel zu kurz. Die Erfahrungen unserer Partner in Afrika, Asien und Lateinamerika und die Erfolge der gemeinsamen Projekte zeigen uns, dass ein wirksamer Schutz vor AIDS anders, das heißt ganzheitlich, ansetzen muss“.

Das UN-Hilfswerk UNESCO und die Weltgesundheitsorganisation WHO propagieren den so genannten ABC-Ansatz, bei dem A (=abstinence; Enthaltsamkeit) und B (=behavior; Verhalten, also Treue) für vorrangig gegenüber C (=condoms; Kondome) erachtet werden. Die größten Erfolge erreicht man mit A, dann mit B und erst dann – als ultima ratio – mit C.

Einen eindrucksvollen Beleg für diese These liefert Uganda. Das Land hatte in den 1980er Jahren vergeblich versucht, das AIDS-Problem „technisch“, also mit der forcierten Abgabe von Kondomen zu lösen, gesponsert durch europäische Entwicklungsorganisationen. Erst durch eine von der Katholischen Kirche sowie anderen religiösen Gemeinschaften unterstützte Kampagne für eine Veränderung des Sexualverhaltens, mit der darauf hingewirkt wurde, dass der erste Geschlechtsverkehr später stattfindet und Sex außerhalb einer festen Beziehung seltener geschieht, konnten in den 1990er Jahren die unverbindlichen Sexualkontakte um 60 Prozent und die AIDS-Quote um 70 Prozent gesenkt werden (Science). Andere Länder der Region, die nur auf Kondome gesetzt hatten, konnten, so Science, keinerlei Erfolg messen. Heute hat Uganda mit 4% eine der niedrigsten AIDS-Raten des afrikanischen Kontinents.

Grundsätzlich scheint die Tatsache, dass die Zahl der Katholiken und die Zahl der AIDS-Kranken in Afrika negativ korreliert, weitgehend unbekannt zu sein. Folgt man den Statistiken der Zeitschriften Komma und ideaSpektrum, so erkennt man: In den Ländern, in denen der Katholikenanteil bei unter 5% liegt, liegt der Anteil der HIV-Infizierten bei über 30% (Swaziland: 43% Infizierte, 5% Katholiken, Botswana: 37%, 4%), in den Ländern, in denen der Katholikenanteil bei unter 10% liegt, liegt der Anteil der HIV-Infizierten bei über 20% Simbabwe 25% Infizierte, 8% Katholiken, Südafrika 22%, 6%). Dort hingegen, wo der Katholikenanteil bei über 10% liegt, liegt der Anteil der HIV-Infizierten bei unter 20% (Sambia 17% Infizierte, 26% Katholiken, Malawi 14%, 19%). Und dort schließlich, wo der Katholikenanteil bei über 30% liegt, liegt der Anteil der HIV-Infizierten bei unter 5% (Ruanda 5% Infizierte, 47% Katholiken, Uganda 4%, 36 %). Kurz: Je mehr Katholiken, desto weniger AIDS. Verbrecherisch? Menschenverachtend?

Der Papst möchte eindringlich davor warnen, dass das ABC der AIDS-Bekämpfung aus Gründen der Leichtfertigkeit und in einer hedonistischen Lebensweise, die weder Rücksicht auf andere noch auf sich selbst nimmt, umgekehrt wird: erst C, dann B und dann – wenn überhaupt – A. Die Katholische Kirche erinnert an die Bedeutung von A und B, während viele nur auf C setzen, obwohl nachweislich die größten Erfolge mit A, dann mit B und schließlich mit C erzielt werden. Das C als Allheilmittel führt in der Tat eher zu einer Verschlimmerung des Problems als zu dessen Lösung.

Der Grund für eine solche Überlegenheit von A und B gegenüber C ist sehr einfach: das verbleibende Risiko, das bei A und B 0%, bei C aber etwa 10% beträgt, folgt man Making condoms work for HIV prevention (2004), einer Studie des Joint United Nations Programme on HIV/AIDS (UNAIDS), in der vier zwischen 1993 und 2002 durchgeführte wissenschaftliche Studien auswertet. Schaut man sich die Studien genauer an, merkt man schnell, dass UNAIDS sich an der optimistischsten orientiert. Im Einzelnen lauten die Ergebnisse: Senkung um 69%, 80%, 87% bzw. 93%. Das macht im Durchschnitt 82,25%. Die jüngste Studie aus dem Jahr 2002 von Weller und Davis ermittelt eine Senkung von 80%, was einem Restrisiko von 20% entspricht. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich würde nicht mehr fliegen, wenn ich damit rechnen müsste, dass jedes fünfte Flugzeug abstürzt.

Also: Wenn sich die AIDS-Pandemie tatsächlich mit Kondomen eindämmen ließe, müsste sie längst eingedämmt sein! Ist sie aber leider nicht. Weil sie eine Folge von menschlichen Verhaltensweisen ist, nicht eine Folge des Mangels oder gar des „Verbots“ von Kondomen durch den Papst. Wer also das Verhalten ausblendet und weiter auf das Kondom als Lösung setzt, verschlimmert insoweit das Problem, da hat Benedikt ganz Recht. Das Kondom als zentraler Lösungsansatz geht am Kern der Sache vorbei, mal ganz abgesehen von falschen Sicherheiten (Kondome machen – wie gesagt – den Sex ja nicht „safe“, sondern nur „safer“). Das Kondom unter diesen Umständen als einzig wirksames Mittel gegen AIDS zu preisen, das ist zynisch, nicht jedoch die Haltung des Papstes. Denn seine Alternative heißt ja nicht Sex ohne Kondom, was das Risiko gegen 100% gehen ließe, sondern Enthaltsamkeit außerhalb und Treue innerhalb der Ehe. Das senkt das Risiko auf praktisch 0%.

Die Lösung der AIDS-Pandemie liegt in der Tat vielmehr in einem „spirituellen und menschlichen Erwachen“ zu einer „Humanisierung der Sexualität“ und der „Freundschaft für die Leidenden“, von der Benedikt spricht. Die Freundschaft besteht in der tätigen Nächstenliebe (jeder vierte afrikanische AIDS-Kranke wird in katholischen Einrichtungen versorgt), das Erwachen in der Besinnung auf Enthaltsamkeit und Treue. Das ist nicht leicht, aber möglich. Der Sexualtrieb liegt zwar in der Natur des Menschen, doch diese Natur ist eben nicht nur biologischer Art, sondern kennt die Vernunft und den Willen als wirksame Regulative. Eine Ethik wie die katholische Morallehre kann auf die Schwäche dieser Instanzen keine Rücksicht nehmen, denn das hieße, dem naturalistischen Fehlschluss vom Sein auf das Sollen zu verfallen. Und das wäre das Ende jeder Ethik.

Also: Ist es wirklich „verbrecherisch“, auf die Ursächlichkeit zu deuten, statt darauf zu setzen, mit technischen Mitteln vordergründige Symptome zu bekämpfen? Ist es wirklich ein Verbrechen, schwierige, aber tragfähige Lösungen anzubieten statt billiger Scheinlösungen, die im konkreten Einzelfall zwar „besser sind als nichts“, in den vergangenen 30 Jahren aber nicht den durchschlagenden Erfolg hatten, soweit es darum geht, AIDS aus der Welt zu schaffen? Und: Wer verachtet den Menschen? Derjenige, der sie als animalisch-triebgesteuert betrachtet, keine oder kaum eine Chance zur sittlichen Regulation sieht und sie daher systematisch einem kalkulierbaren Risiko aussetzt oder der, der sich um eine Humanisierung der Sexualität bemüht, auf dass die Person von Mann und Frau in einer Sittlichkeit geachtet werde, die bei „Sex“ nicht nur an kopulierende Körper, sondern an Vertrauen und Liebe denkt? Die erkennt, dass „Sexualität“ nicht nur den Geschlechtsakt meint, sondern auch Enthaltsamkeit und Treue umfasst? Die Antwort fällt vielleicht jetzt nicht mehr ganz so leicht. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Das Recht, Unrecht zu haben

Die Papstgegner haben also in der von ihnen selbst aufgebrachten Sache meist Unrecht. Dennoch haben sie das Recht, für ihre Meinung auf die Straße zu gehen oder der Rede im Bundestag fern zu bleiben. Denn das garantiert die Meinungsfreiheit. Und Meinung ist nicht an Wahrheit, noch nicht einmal an Informiertheit gebunden. Es gilt, auch den böswilligsten Unsinn von der angeblichen „Menschenverachtung“ zu tolerieren. Es gilt aber zugleich, darauf hinzuweisen, dass es sich eben um Unsinn handelt. Ob nun in jedem Fall böser Wille dabei mitspielt, weiß ich nicht. Ich bin stets geneigt, zunächst Informationsmängel zugrunde zu legen.

Aus Spanien – und damit aus der Ferne – werde ich den Papstbesuch verfolgen und mich erst dann wieder dazu melden, wenn er denn vor dem Deutschen Bundestag gesprochen hat – der Herr Ratzinger, der Papst Benedikt XVI., der Heilige Vater. Bis dahin empfehle ich seinen Gegnern, mal eine wirklich sachliche Kritik an Papsttum und Katholizismus zu üben. Etwa so: „Nun sehen wir, dass der Papst mit seinen römischen Kardinälen nichts anderes ist denn ein verzweifelter Spitzbube, Gottes und Menschen Feind, der Christenheit Verstörer und des Satans leibhaftige Wohnung!“ – Luther. Geht doch!

(Josef Bordat)

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