Vom Schweigen und Verschweigen

20. Februar 2011


Am 20. Februar 1963 wird an der Berliner Volksbühne Rolf Hochhuths Stück „Der Stellvertreter“ uraufgeführt. Barbara Fischer (Deutsche Welle) demonstriert anlässlich dieses Datums, wie man durch Einseitigkeit und Ignoranz gegenüber dem aktuellen historischen Forschungsstand zu Papst Pius XII. die Wahrheit verfehlt.

Über Papst Pius XII. wird viel gestritten. Das weiß ich. Ich bin aber selbst kein Kirchenhistoriker und weiß wenig über Pius XII. Insoweit bin ich bei der Beurteilung streitbarer Beiträge auf die fundierenden und kommentierenden Arbeiten der Fachleute angewiesen, die in Archiven Akteneinsicht nehmen. Umso mehr freue ich mich, wenn mal wieder etwas Neues erscheint, was ja in den letzten Jahren öfter der Fall war; ich komme darauf noch zurück.

Nun stolperte ich über einen Text zum 48. Jahrestag der Uraufführung von Rolf Hochhuths Pius-Stück „Der Stellvertreter“, der – das fiel selbst einem Laien wie mir auf – ein dramatischer Rückfall hinter den aktuellen historischen Forschungsstand darstellt. Der Text ist eine einzige Lobhudelei, ohne jede Distanz geschrieben, ohne Berücksichtigung neuerer Erkenntnisse aus jüngeren Arbeiten, schon gar nicht unter Hinweis auf kritische Stimmen. Kein abwägender Ausgleich der Positionen, nicht mal der entsprechende Versuch, ja, noch nicht mal die Spur eines solchen. Kurzum: Ein Meisterwerk deutschen Qualitätsjournalismus’, vorgelegt von Barbara Fischer für die sonst von mir sehr geschätzte Deutsche Welle.

Nicht nur, dass in dem Text der Autorin Fischer der Stückeschreiber Hochhuth als der Pius-Experte vorgestellt wird, nein, er scheint überhaupt der Einzige zu sein, der kompetent über Pius berichten und richten kann. Benno Kirsch fasst die Hintergrundmelodie, vor der Frau Fischer das alte Lied singt, in einer LiteraturkritikSammelrezension zu zwei Pius-Neuerscheinungen in seinem 50. Todestag (2008)[1], deren bloßes Vorhandensein schon andeutet, dass Hochhuth kein Monopol in der Pius-Forschung besitzt, sehr schön zusammen: „Seitdem Rolf Hochhuth 1963 sein Bühnenstück ,Der Stellvertreter’ herausbrachte, steht das öffentliche Urteil über Papst Pius XII. fest: Er war der Papst, der im Angesicht der Judenvernichtung durch die Nazis geschwiegen hat und dadurch zum Komplizen Adolf Hitlers wurde. Anstatt die NS-Verbrechen öffentlich zu verurteilen, kümmerte er sich lieber um die vatikanischen Geldgeschäfte. Aus einem unerfindlichen Grund beschäftigen sich seitdem die Historiker und die Öffentlichkeit mit dem ,Schweigen des Papstes’, ganz so, als hätte Hochhuth seinerzeit eine wissenschaftliche Arbeit vorgelegt und keine erdichtete Geschichte, die zugegebenermaßen mit einem dokumentarischen touch versehen worden war.“

Für Autorin Fischer scheint die „erdichtete Geschichte“ aber die einzige glaubhafte Autorität in Sachen Pius XII. zu sein und an Wissenschaftlichkeit offenbar nicht zu überbieten. Man muss bei Hochhuths Stück nicht unbedingt an eine KGB-gesteuerte Intrige denken, obwohl einiges dafür spricht[2], doch zu glauben, in dem Schmierentheater der Weisheit letzten Schluss erkennen zu können, mithin zu meinen, Hochhuth stelle im „Stellvertreter“ die wahre Geschichte nach, ist dann doch so, als halte man „Raumschiff Enterprise“ für eine Technologie-Dokumentation.

Aber das ficht Frau Fischer nicht an. Sie nimmt den populären Schweige-Vorwurf auf und meint: „Das Stück bricht Tabus, es klagt den Papst Pius XII. und die katholische Kirche an. Der Vorwurf lautet: ein Konkordat, eine Abmachung verband den Papst und die gesamte katholische Kirche mit den Nazis.“

Das ist gleich schon mal grober Unfug. Hans Maier äußert sich in einer Besprechung des Buches von Hubert Wolf Papst und Teufel. Die Archive des Vatikans und das Dritte Reich (2008) wie folgt zu dem Zusammenhang oder besser: „Nicht-Zusammenhang“ von Vatikan und Nazi-Deutschland: „Was das Reichskonkordat und seine Vorgeschichte angeht, so können nach Wolfs sorgfältigen Darlegungen einige weitverbreitete Hypothesen ad acta gelegt werden. Weder bei den Entscheidungen der deutschen Bischöfe nach der ,Machtergreifung’ noch bei der Zustimmung des Zentrums zum Ermächtigungsgesetz, noch beim Konkordatsvorschlag selbst, der von deutscher Seite ausging, war die römische Kurie dirigierend im Hintergrund beteiligt. Ganz im Gegenteil: Der Diplomat Pacelli bedauerte ausdrücklich, dass die Bischöfe die Verurteilung des Nationalsozialismus zurücknahmen, ohne von der Regierung eine Gegenleistung zu verlangen. Die Selbstauflösung des Zentrums, die er aus der Zeitung erfuhr, überraschte und irritierte den päpstlichen Nuntius und nachmaligen Pius XII.“[3] Vor diesem Hintergrund ist der Einstieg Fischers erhellend, zeigt er doch sogleich, dass das Hochhuth-Stück nicht nur „Tabus“ bricht, sondern auch und vor allem mit den Fakten.

Weiter im Text: „Hochhuth spitzt das Thema zu: Tausende Juden werden über den Petersplatz aus Rom in die Gaskammern der Nazis abtransportiert und der Papst, die moralische Instanz des Erdkreises, sieht zu und schweigt.“ Offenbar merkt die Autorin, dass es jetzt an der Zeit ist, doch mal kurz die Gegenposition einzunehmen: „,Falsch’ lautet das Dementi der Papsttreuen, ,Pius schwieg nur, um einer noch drastischeren Verfolgung der Juden und auch des Klerus entgegenzuwirken.’“ Das war’s dann für die Gegenseite. Keine Erläuterung, wie dies gemeint ist. Kein Wort zu den Hintergründen. Nichts. Auch nicht, dass man als Historiker nicht „papsttreu“ zu sein braucht, um ein „Falsch!“ auszusprechen, sondern einfach nur wissenschaftlich korrekt forschen und einigermaßen redlich argumentieren muss, um die böswillige Unterstellung zu widerlegen, der Papst schwieg aus Desinteresse gegenüber den Juden oder gar aus Sympathie mit den Nazis.

Wenn er denn überhaupt schwieg! Die New York Times schrieb über die Weihnachtsansprache 1942, in der Papst Pius XII. die nationalsozialistische Verfolgung der Juden anprangerte: „In dieser Weihnacht ist der Papst mehr denn je die einsame aufbegehrende Stimme im Schweigen eines Kontinents.“[4] Wohlgemerkt: Der Kontinent schwieg, nicht der Papst. Die damalige israelische Außenministerin und spätere Premierministerin Golda Meir telegraphierte anlässlich des Todes von Papst Pius XII. (1958, fünf Jahre vor der Uraufführung von „Der Stellvertreter“) an den Vatikan: „Wir trauern. Wir haben einen Diener des Friedens verloren. Als in dem Jahrzehnt des nationalsozialistischen Terrors unser Volk ein schreckliches Martyrium überkam, hat sich die Stimme des Papstes für die Opfer erhoben.“[5] Irgendwie ein Widerspruch zur Schweigethese. Was soll’s!

Und wenn er, der Papst, schwieg, dann aus gutem Grund: „Pius musste Angst um sein Leben haben, noch mehr aber erschütterte ihn die Verschleppung der Juden. Ein Protest der holländischen Bischöfe wurde von den Nazis mit der Deportation von 40.000 Menschen beantwortet. Pius litt schwer darunter, formulierte einen Protest, gab die Handschrift dann aber [seiner Haushälterin, J.B.] Pascalina: ,Verbrennen Sie diese Bögen, es ist mein Protest gegen die grauenhafte Judenverfolgung. Heute Abend sollte er im Osservatore Romano erscheinen. Aber das würde vielleicht 200.000 Menschenleben kosten. Das darf und kann ich nicht verantworten. So ist es besser, in der Öffentlichkeit zu schweigen und für diese armen Menschen wie bisher in der Stille alles zu tun, was möglich ist.’” So Hans-Werner Scheidl in der Wiener Tageszeitung Die Presse (13.09.2008).[6] Papst Pius ist für alle aufrichtigen Menschen (papsttreu oder nicht) keineswegs der „skrupellose Schweiger“, sondern der „stille Retter“. Es schwieg nicht nur, um keine zusätzlichen Verfolgungswellen auszulösen, sondern half tatkräftig. Das alles hätte man erwähnen können. Autorin Fischer sieht jedoch keinen Erläuterungsbedarf und lässt statt dessen die rhetorische Frage folgen: „Noch drastischer?“ Noch drastischer als der Holocaust? Das scheint undenkbar und soll die ganze Fadenscheinigkeit der papsttreuen Apologetik entlarven. Dass es tatsächlich immer „noch drastischer“ ging, wenn sich die Kirche zu lautstark einmischte, zeigen die Folgen des offenen Protests der holländischen Bischöfe – angeführt vom Utrechter Erzbischof de Jong – Ende Juli 1942, auf den sich Pius bezieht, als er seinen Artikel verbrennen lässt und sich dafür entscheidet, statt eines Aufschreis „in der Stille alles zu tun, was möglich ist“. Was geschah in den Niederlanden? Nicht nur die Juden, sondern auch die „katholischen Nichtarier“ wurden Anfang August verschleppt (unter tausenden Anderen: Edith Stein), während die „evangelischen Nichtarier“ durch das Schweigen ihrer Bischöfe verschont blieben. Die Reaktion der Nazis auf den Protest der katholischen Bischöfe zeigt das Risiko der Intervention. Es ist interessant, dass bei Hochhuth und auch bei Frau Fischer der Eindruck erweckt wird, als habe „Sprechen“ immer nur positive Folgen. Berthold Brecht, sicher über den Vorwurf unbotmäßiger Papsttreue erhaben, ergriff in „Maßnahmen gegen die Gewalt“ für das „Schweigen“ Partei: Wenn man Menschenleben gefährdet, muss man sich der Macht des Faktischen beugen, freilich ohne ihr zuzustimmen oder gar selbst aktiv zu werden.

Es fällt der Autorin – wie auch Hochhuth – unglaublich schwer zu begreifen, wie ein Mann in der Position des Papstes weniger auf spektakuläre Gesten und einen guten Nachruf aus ist als auf die Rettung von Menschenleben. Und Menschenleben war Papst Pius XII. partout nicht zu opfern bereit. Das nimmt Hochhuth ihm offenbar immer noch krumm. In einem Interview mit Alan Posener (Die Welt) sagte er unlängst: „Wäre es zu einem Zusammenstoß zwischen der deutschen Besatzungsmacht und Pius wegen des Abtransports der Juden gekommen, hätte er damit die Kirche auf einen seit dem Mittelalter nicht gekannten Höhepunkt gebracht. Die ganze Welt hätte dem Vatikan zu Füßen gelegen. Mit Recht.“[7] Dazu analysiert Pater Engelbert Recktenwald: „Hochhuth vermisst also einen gewaltigen Showeffekt, durch den sich die Kirche öffentlich als Widersacher der deutschen Besatzungsmacht hätte profilieren können. Dass dies das Leben Zigtausender Unschuldiger, Juden wie Katholiken, und die Vereitelung aller von der Kirche tatsächlich durchgeführten Rettungsaktionen bedeutet hätte, verschweigt Hochhuth. Hätte Pius XII. damals so gehandelt, wären sofort Hunderte von Hochhuths aufgestanden und hätten dem Papst vorgeworfen, um des Prestiges der Kirche willen unzählige Menschenleben geopfert zu haben. Nur hätten diese Hochhuths mit ihrer Kritik Recht gehabt. Dass der echte Rolf Hochhuth angesichts der historischen Faktenlage an seiner Verurteilung des Papstes festhält, läßt sich vielleicht nur noch mit einem von ihm selbst benutzten Wort charakterisieren: ekelhaft.“[8]

Zurück zum Fischer-Text. Als Begründung für die „Schweige/Desinteresse/Nazi-Freund“-These dient dann der Satz: „Hochhuth kann akribisch nachweisen, dass der Papst stets über das Ausmaß der Deportationen und der Judenvernichtung informiert war.“ Ja, das mag sein. Und wie wir alle, außer ganz offensichtlich Hochhuth und Frau Fischer, wissen, mag diese Kenntnis auch eine Rolle gespielt haben im Rahmen der von Michael Hesemann in Der Papst, der Hitler trotzte. Die Wahrheit über Pius XII. (2008) beschriebenen umsichtigen Dreifachstrategie des Papstes: 1. Diplomatische Interventionen, wo sie erfolgversprechend sind, 2. Unterstützung von Bestrebungen zur Entmachtung Hitlers, 3. Tatkräftige Hilfe; Hesemann spricht von der „größten Rettungsaktion der Geschichte“ mit nahezu 1 Million geretteten Juden. Davon ist bei Frau Fischer nicht die Rede. Sie kennt keinen Hesemann, der das historisch sauber herausgearbeitet hat. Sie kennt auch keine Belege für Rettungen. Gibt’s die? Offenbar finden sie sich in den Akten, die Hesemann studiert hat. Doch es gibt auch andere interessante Belege. In einem Tagebuch schreibt man normalerweise, was man wirklich denkt. Israel Zolli, Oberrabbiner in Rom während des Zweiten Weltkriegs, notiert 1945 in seinem Tagebuch: „Das Judentum hat Pius XII. gegenüber eine große Dankesschuld. Bände könnten über seine vielfältige Hilfe geschrieben werden. Kein Held der Geschichte hat ein tapfereres und stärker bekämpftes Heer angeführt als Pius XII. im Namen der christlichen Nächstenliebe. Das außergewöhnliche Werk der Kirche für die Juden Roms ist nur ein Beispiel der ungeheuren Hilfe, die von Pius XII. und den Katholiken in aller Welt mit einem Geist unvergleichlicher Menschlichkeit und christlicher Liebe geleistet wurde.”[9]

Auch dieses leuchtend klare Zitat kennt Frau Fischer nicht. Frau Fischer kennt nur das Schweigen. Und Hochhuth, sonst nichts: „Der Autor Hochhuth leistet, nur kurze Zeit nach den schrecklichen Geschehnissen, unbequeme Pionierarbeit. Es folgen zahlreiche, zumeist historische Publikationen über die Schuld des Papstes an der Judenvernichtung. Hochhuth hat als Autor die Verantwortung des Historikers übernommen, der Geschichte beschreibt.“ Na, prima! Bei dieser Expertise bleiben keine Zweifel mehr übrig. Wie gut, dass Hochhuth (als einziger Mensch auf dieser Welt!) sich aufopferungswillig mit Pius XII. beschäftigt hat! Wir wüssten heute ohne Hochhuth ja kaum, dass Papst Pius überhaupt gelebt hat. Angesichts des edlen Arbeitsethos Hochhuths, den Barbara Fischer mit den Worten zitiert: „Ich kenne das Wort von Lessing: ,Der Dichter ist der Herr der Geschichte.’ Das lehne ich ganz ab. Ich sage, der Dichter ist der Knecht der Geschichte, und ich habe kaum die Illusion, dass Stücke aktiv Menschen verändern. Ich habe im Gegensatz zu Lessing auch die Auffassung, dass der Autor, wenn er Geschichte auf die Bühne bringt, so nah wie möglich an der historischen Wahrheit bleiben muss, dass er sein Stück vernichtet, wenn er die historische Wahrheit manipuliert.“, muss man ja auch gar nicht erst nach anderen Pius-Rezipienten Ausschau halten. Wohl dem, der einen Hochhut hat!

Nur: Wie passt das alles zum aktuellen Forschungsstand? Wie passt das zu den IKEA-Regalen an Neuerscheinungen der letzten Jahre, die mit dem „Mythos Pius“, auf den Hochhuth noch baut, gehörig aufräumen? Wie passt das zu Rabbi David Dalins Studie The Myth of Hitler’s Pope: Pope Pius XII And His Secret War Against Nazi Germany (2005), in der er – so der Klappentext – „explodes the resurrected, widely accepted, yet bankrupt smearing of Pope Pius XII, whom Jewish survivors of the Holocaust considered ,a righteous gentile’. With devastating scholarship and unblinking honesty, he sets the record straight in a book that should shame haters of the pope, inspire conservative Christians.“? Wie passt das zu Margherita Marchiones Did Pope Pius XII Help the Jews? (2007), in dem die Frage in aller Deutlichkeit bejaht wird? Und wie passt Dan Kurzmans A Special Mission: Hitler’s Secret Plot to Seize the Vatican and Kidnap Pope Pius XII (2008) in die Nazi-Papst-Propaganda hinein? Wenn – laut Verlag – Kurzman „relates how a Hitler-Himmler order in 1943 to kidnap the pope and seize Vatican files and treasures was twice delayed and finally undermined by a group of high German officers and officials in Rome“ und „demonstrates that Hitler wanted the Vatican neutralized because he thought the pope had aided the overthrow of Mussolini in 1943 and feared that the Church’s leader would denounce the Final Solution in general and the imminent deportation of Rome’s Jews in particular“ – dann, ja, dann stellt sich angesichts von Hochhuths Pius-Karrikatur, die Frau Fischer für ein biometrisches Foto hält, folgende Frage: Warum die Sorge Hitlers, wenn Pius doch sein bester Freund war? Und bei der „final Solution in general and the imminent deportation of Rome’s Jews in particular“ ohnehin nur „zusah und schwieg“. Antwort auf die Ausgangsfrage: Es passt hinten und vorne nicht!

Dann wäre da noch Gary Krupps Pope Pius XII and World War II- The Documented Truth (2010). Aus einer Amazon-Rezension: „Mr. Krupp has compiled thousands of documents in his book, which proves Pope Puis XII was an unsung hero of World War II. Pope Puis XII secretly hid, fed and provided false documents to hundreds of thousands of Jews fleeing Hitler and his murderous henchmen according to the documents in this book. In all of the books out there against Pope Puis XII, not one has any documentation at all. Read for yourself. Even the biggest doubter will change his mind.“ Nun, darauf würde ich zwar nicht wetten, aber immerhin könnte es zum Nachdenken anregen. Im März 2011 wird ein Buch erscheinen, dass kritisch, aber wohl auch fair mit Pius umgeht. Paul O’Shea: A Cross Too Heavy. Pope Pius XII and the Jews of Europe. Aus der Verlagsinformation: „The papacy of Pius XII (1939-1958) has been a source of near-constant debate and criticism since his death over half a century ago. Powerful myths have arisen around him, and central to them is the dispute surrounding his alleged silence during the years of the Holocaust. In this groundbreaking work, historian Paul O’Shea examines the papacy as well as the little-studied pre-papal life of Eugenio Pacelli in order to illuminate his policies, actions, and statements during the war. Drawing carefully and comprehensively on the historical record, O’Shea convincingly demonstrates that Pius was neither an anti-Semitic villain nor a ,lamb without stain’.“ Letzteres – Makellosigkeit – behauptet keiner. Ersteres behauptet Hochhuth.

Oder – aus dem deutschsprachigen Raum – Alexandra von Teuffenbachs Pius XII.: Neue Erkenntnisse über sein Leben und Wirken (2010). Kurzfassung des Teuffenbach-Ansatzes nach Verlagsangaben: „[W]ie kam es dazu, dass er Vielen nur als Hitlers Papst bekannt wurde oder als Hochhuths Stellvertreter? Alexandra von Teuffenbach hat dieses Buch in der Absicht geschrieben, Licht in das Leben und Wirken Pius XII. zu bringen, mit Halbwahrheiten und Vorurteilen aufzuräumen und ihn in den Kontext seiner Zeit einzubetten. Besonders die Ereignisse, deren Mittelpunkt Deutschland ist, sind der Autorin dabei wichtig. Vor allem aber liefert von Teuffenbachs Buch viele neue Erkenntnisse über diesen außergewöhnlichen Papst. Ihr Wissen basiert neben vielen anderen von Zeitgenossen verfassten Quellen auch auf bisher in Deutschland unveröffentlichten Archivdokumenten von P. Robert Leiber, dem Privatsekretär Papst Pius XII.“ Am letzten Mittwoch ist Saul Friedländers Pius XII. und das Dritte Reich: Eine Dokumentation (2011) erschienen. Es versammle, so teilt der Verlag mit, „die wichtigsten Quellen und bietet eine unverzichtbare Grundlage für jeden, der sich über die Rolle der katholischen Kirche während der NS-Zeit selbst ein Urteil bilden will“.

Sapere aude! Selber denken. Doch, keine Angst: Man muss dafür nicht lesen. Fernsehen reicht. Im November 2010 zeigte die ARD den Spielfilm Pius XII., in dem, wie Pater Engelbert Recktenwald meint, einem Millionenpublikum die Wahrheit enthüllt wurde, „dass Pius XII. nach dem Motto handelte ,Retten statt Reden’, wie es der Historiker Karl-Joseph Hummel ausdrückte“. Ein Spielfilm, klar, aber nach allem, was wir heute wissen, weit näher an der historischen Wahrheit als das Theaterstück von 1963. Wie gesagt: Ich bin kein Kirchenhistoriker und schon gar kein Pius-Experte. Aber wenn nur ein Funken Wahrheit in diesen Arbeiten aus den letzten fünf, sechs Jahren enthalten ist, wäre Hochhuth widerlegt.

Doch das alles muss die Autorin Fischer freilich nicht interessieren. Die schließt lieber mit den handelsüblichen Klischees, der Vatikan sei nach wie vor „ein Hort des Schweigens und der Restriktion“, in dem sich alte, weltfremde Männer um sich selbst drehen und nur eine „Lieblingsbeschäftigung“ haben: den Seligsprechungsprozess Pius XII. Der Artikel schließt mit dem Vorwurf, einer „vom Vatikan selbst eingesetzten jüdisch-katholischen Historikerkommission“ sei der Zutritt ins Archiv verwehrt worden, so dass sie „im Sommer 2001 ihre Arbeit frustriert einstellte“. Was da dran ist, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass in den letzten zehn Jahren zig Historiker im Vatikan Akteneinsicht nahmen und dass die Früchte der Akteneinsicht u. a. Klaus Kühlweins Buch sowie Michael Hesemanns hervorragende Arbeit sind. Ohnehin hat man den Eindruck, dass mit jeder Archivbegehung synchron zur schrittweisen Annäherung an die Wahrheit auch immer mehr Entlastendes für Papst Pius XII. ans Licht kommt. Kurzum: Der Vatikan hat gar keinen Grund, irgendetwas zu verheimlichen.

Fazit: Bei aller Kontroverse um Pius XII. steht fest, dass Hochhuths Pius-Deutung sich nicht auf dem Stand der historischen Forschung befindet. Ob sie sich zum Zeitpunkt der Uraufführung des Stücks dort befand, darf bezweifelt werden. Mein Vorwurf: Das hätte die Autorin Fischer erstens wissen und zweitens schreiben können – nein: müssen! Schließlich ist es schlicht unredlich, so zu tun, als seien wir heute keinen Schritt weiter als vor 50 Jahren. So wie man zum nächsten Gutenberg-Jubiläum seine umgebaute Weinpresse nicht als Non plus ultra moderner Drucktechnik anpreisen sollte, wenn man Menschen mit gewissen Vorkenntnissen nicht verblüffen und solche ohne nicht irreführen will, so sollte man nicht so tun, als gäbe es neben Hochhuth nur in Hochachtung erstarrte Kirchenhistoriker, die keinen Deut vom Tenor des „Stellvertreter“-Stücks abzurücken gewillt bzw. in der Lage sind und über die man deswegen kein Wort zu verlieren braucht. Entweder kennt die Autorin die Wahrheit nicht – oder sie verschweigt sie. Beides ist schlecht. Sehr schlecht.

Andererseits hat Barbara Fischer im Sinne der antiklerikalen Medienkampagne ganze Arbeit geleistet. Sie setzt ein kleines Mosaiksteinchen ins Lügenfresko der Kirchenkämpfer in Schrift, Bild und Ton, zu denen offenbar – ich sage das nicht gerne – auch die Deutsche Welle gehört. Frau Fischer fügt sich prima in das stereotype „Papst ist Schuld“ (egal welcher) des medialen Mainstreams ein. Einziges Manko: Sie hat die Kreuzzüge vergessen.

(Josef Bordat)

Anmerkungen:

[1] Es handelt sich dabei um Michael Hesemanns Der Papst, der Hitler trotzte. Die Wahrheit über Pius XII. und Klaus Kühlweins Warum der Papst schwieg. Pius XII. und der Holocaust. Beide nehmen in Leserbriefen zu der Besprechung Kirschs Stellung.

[2] Der ehemalige rumänische Doppelagent Ion Mihai Pacepa behauptet – nach Meinung des Berliner Historikers Michael Feldmann glaubhaft –, dass Hochhuths Stück Teil einer Desinformationskampagne des KGB namens „Seat 12“ gewesen sei, die mit dem Ziel geführt wurde, die moralische Autorität des Vatikan in Westeuropa zu untergraben. Im Detail nachzulesen in Pater Engelbert Recktenwalds kath-info.

[3]-[9] Nachzulesen in Pater Engelbert Recktenwalds kath-info.

Weiterführende Informationen (nicht nur für Frau Fischer) findet man auf kath-info:

* Eine umfangreiche Sammlung mit aktuellen Zitaten und Links zur Diskussion um Pius XII., welcher ein Großteil der im Text herangezogenen Quellen entnommen sind.

* Ein Dossier über die Berliner Pius-Ausstellung (2009), ihre Rezeption durch die TAZ und deren Kommentierung durch Michael Hesemann.

* Einen Text von Daniel Eichhorn zum 50. Todestag Papst Pius XII. (2008).

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