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Deutschland Leben im Überfluss

Deutschland geht es einfach zu gut

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Einmaliges Wohlstandsniveau: Bundeskanzlerin Angela Merkel (r.) und Vizekanzler Sigmar Gabriel amüsieren sich prächtig Einmaliges Wohlstandsniveau: Bundeskanzlerin Angela Merkel (r.) und Vizekanzler Sigmar Gabriel amüsieren sich prächtig
Einmaliges Wohlstandsniveau: Bundeskanzlerin Angela Merkel (r.) und Vizekanzler Sigmar Gabriel amüsieren sich prächtig
Quelle: Frank Hoppmann
Die GroKo-Republik diskutiert über vegane Ernährung und Gender-Mainstreaming. Eine Gesellschaft, die sich mit so etwas herumschlägt, ist im Begriff, aus Mangel an Problemen Selbstmord zu begehen.

Wer wissen möchte, wie die Gesellschaft der Bundesrepublik tickt, was die Menschen aufregt und bewegt, der sollte eine gut sortierte Buchhandlung besuchen. Und sich in die Abteilung Kochbücher begeben. Dort ist der Zeitgeist zu Hause. Mit Titeln wie „Vegan für Einsteiger“, „Vegan vom Feinsten“, „Peace Food – Das vegane Kochbuch“, „Vegan for Fit“, „Vegan for Fun“, „Vegan abnehmen“, „Vegane Küche für Kinder“, „Das Rock ’n’ Roll Veganer-Kochbuch“.

Gleich daneben findet der Tierfreund alles, was er über seine kleinen Lieblinge wissen möchte. „Die besten Hundespiele“, „Hilfe, mein Hund ist in der Pubertät“, „Spiel- und Wohnideen für Meerschweinchen“, „Können Hunde träumen?“ Und nur ein paar Schritte weiter, in der Abteilung Erziehung, gibt es meterweise Gender-Forschung, eine relativ neue, aber schon sehr ausdifferenzierte Disziplin: „Gender Mainstreaming im Kindergarten“, „Männer in Kitas“, „Gender in Islam und Christentum“, „Gender in der Drogenarbeit“, „Gott und Gender“.

Mehr verwirrt als aufgeklärt verlässt der Besucher die Buchhandlung und sucht Zuflucht im wirklichen Leben – bei Bratwurst und Fritten in einer Imbissbude an der Ecke. Dabei fällt sein Blick auf eine Boulevardzeitung, die ein Gast liegen ließ. Die Titelseite ist schon etwas zerknittert, aber gut lesbar: „Erster Berliner Friedhof nur für Lesben“. Nach dem Besuch in der Buchhandlung kann den Fast-Food-Gourmet nichts mehr überraschen, aber das hier, das geht zu weit. Lesbenfriedhof! Wird es demnächst auch Friedhöfe für Veganer geben? Oder für Nichtraucher, Radfahrer, Pazifisten, Nudisten und Atheisten, die unter ihresgleichen ruhen wollen?

Predigen der „Kultur des Weniger“

Man kann es nicht ausschließen. Die Überflussgesellschaft kreiert Probleme und macht zugleich Angebote zu ihrer Lösung, von denen Menschen in Albanien und Zimbabwe nicht einmal wissen, dass es sie gibt, weil sie damit beschäftigt sind, ihre primären Bedürfnisse zu sichern. Das täglich Brot und ein Dach über dem Kopf. Wer auf der Straße lebt, wird sich kaum um einen Platz im „Dschungelcamp“ bemühen.

Nur dort, wo die Grundbedürfnisse garantiert sind, kann sich jene Form der Dekadenz entfalten, die der „Spiegel“ vor Kurzem in einer Titelgeschichte über den „Konsumverzicht“ feierte: „Weniger haben – glücklicher leben“. Politiker, die nach nur zwei Legislaturperioden eine höhere Rente bekommen als ein Arbeitnehmer nach 30 Jahren, predigen eine „Kultur des Weniger“.

Die Republik hat ein Wohlstandsniveau erreicht, das in der deutschen Geschichte einmalig ist. Die Lebenserwartung war nie höher, die medizinische Versorgung nie besser, der Zugang zu Bildung nie umfassender, der gesetzlich garantierte Urlaub nie länger, die Arbeitszeit nie kürzer. Was immer man von der Politik der jeweiligen Regierung hält, man muss zugeben, dass das Land ordentlich verwaltet wird.

Das Schlimmste, das einem Bürger zustoßen kann, ist, dass er auf seinen iPad eine Woche warten muss oder dass er in der Schleife eines Call-Centers verloren geht. Und genau das scheint die Crux zu sein. Oder, wie es die deutsch-türkische Journalistin Cigdem Toprak schrieb: „Die Deutschen haben keine Probleme. Das ist ihr Problem“ – anders als die Türken, die Griechen, die Spanier und noch ein paar Ethnien im vereinten Europa.

Armut breitet sich aus

Das macht den Deutschen zu schaffen. Glück ist kein Meister aus Deutschland. Und deswegen brechen sie immer wieder auf, um das Unglück zu finden, das sie glücklich macht. Mindestens zweimal im Jahr erscheint ein „Armutsreport“, der das bestätigt, was ohnehin alle wissen. Die „gefühlte“ Armut breitet sich aus, immer mehr Menschen, vor allem Kinder, seien „armutsgefährdet“. Es gibt inzwischen sogar hauptamtliche Armutsforscher, die sich um eine wissenschaftliche Erfassung des Phänomens bemühen.

Wobei sauber zwischen „absoluter“ und „relativer“ Armut unterschieden wird. An der Uni Salzburg arbeitet ein „Zentrum für Ethik und Armutsforschung“. Die „Literaturliste Armutsforschung“ führt eine Vielzahl von Publikationen zu diesem Thema auf, darunter auch „Belletristik zum Thema Armut“ nach Kategorien sortiert: „Armut im Gedicht und Lied, im Film, der Oper, im Musical und im Bild“. Dazu zählen die „Dreigroschenoper“, „Anatevka“ und Günter Wallraffs Klassiker „Ganz unten“.

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Die neuesten Produkte aus dieser Reihe heißen: „Ein Jahr lang keine Kleidung kaufen“, „No Shopping! Ein Selbstversuch“ und „Ich kauf nix – Wie ich durch Shopping-Diät glücklich wurde“. Dass ein Arbeitsamt von einem Gericht dazu verurteilt wird, einem arbeitslosen Künstler den Flug nach Indonesien zu bezahlen, damit er dort seinen Sohn besuchen kann, ist auch eine Art Experiment: Wo hört die soziale Kälte auf und wo fängt der administrierte Wahnsinn an?

Echte Armut kennt keine Forschung

In Ländern freilich, in denen keine „gefühlte“, sondern eine wirkliche Armut existiert, gibt es keine „Armutsforschung“, denn niemand hat das Geld, um sie zu bezahlen. Armutsforschung, Genderforschung, Konsumforschung und eine Anzahl anderer Disziplinen, die erst erfunden werden mussten, damit sie dann aufwendig bearbeitet werden können, sind Belege dafür, dass die Gesellschaft einen extrem hohen Sättigungsgrad an sozialen und intellektuellen Dienstleistungen erreicht hat. Wer auf diesem Gebiet hervorstechen will, muss sich schon etwas Besonderes einfallen lassen.

Zum Beispiel, dass die sexuelle Prägung eines Menschen keine biologische Tatsache, sondern ein „gesellschaftliches Konstrukt“ ist, das man kritisch hinterfragen müsse. Dafür gibt es dann Preise und Auszeichnungen ohne Ende, verliehen von Institutionen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Realität zu relativieren.

Die Blaupause all dieser Bemühungen ist eine Komödie von Ephraim Kishon aus den 70er-Jahren: Der Blaumilchkanal. Darin reißt ein aus einer Irrenanstalt geflohener Geisteskranker namens Kasimir Blaumilch die Hauptstraße von Tel Aviv auf. Da niemand weiß, wer die Maßnahme angeordnet hat, lässt man ihn gewähren. Am Ende durchzieht ein Kanal die Stadt und der Bürgermeister freut sich über das „Venedig des Nahen Ostens“.

Unisextoiletten in öffentlichen Gebäuden

Etwas Ähnliches, wenn auch im kleineren Maßstab, geschieht derzeit in Berlin. Die Bezirksverordnetenversammlung von Kreuzberg-Friedrichshain hat beschlossen, in öffentlichen Gebäuden – Bürgerämtern, Büchereien und Schulen – Unisextoiletten einzurichten: für Menschen, die sich nicht entscheiden können, ob sie Frauen oder Männer sein wollen. In den Unisextoiletten soll es auch Wickeltische geben.

Ob die Urinale frei oder diskret in einer Box stehen sollen, darüber wird noch engagiert diskutiert. Für den Fraktionschef der Piraten im Bezirksparlament ist das nur ein kleiner Schritt für Kreuzberg-Friedrichshain, aber ein großer Schritt für die Gesellschaft. Er wünscht sich, dass „die Geschlechtertrennung langfristig irgendwann aufgehoben ist, sodass niemand mehr den Bedarf nach eingeschlechtlichen Toilettenräumen hat“. Ohne irgendjemand zu nahe zu treten: Eine Gesellschaft, die sich mit solchen „Problemen“ herumschlägt, ist im Begriffe, aus Mangel an Problemen Selbstmord zu begehen.

Wenn die Deutschen an irgendeiner Volkskrankheit leiden, dann ist es nicht Diabetes, Übergewicht oder „Rücken“, sondern die Verweigerung der Wirklichkeit. Ein gut funktionierendes System der Energieversorgung wird über Nacht zerschlagen, weil in Japan ein Kernkraftwerk von einem Tsunami zerstört wurde. So etwas könnte morgen auch in Cuxhaven oder Scharbeutz passieren, und deswegen wird die Energieversorgung vollkommen umgestellt.

Explodierende Kosten der Energieversorgung

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Atom, Gas und Kohle sollen durch Sonne, Wind und Biomasse ersetzt werden. Die Folge sind bekannt: explodierende Kosten und zunehmende Versorgungsunsicherheit, die dazu führt, dass trotz zeitweiliger Produktionsüberschüsse Atomstrom aus Frankreich importiert werden muss, um Engpässe und Ausfälle zu vermeiden. Wie legitimiert man eine falsche Entscheidung? Indem man weitermacht. Wenn die Wirklichkeit sich nicht so entwickelt, wie sie geplant wurde – umso schlimmer für die Wirklichkeit.

Und wenn mal zurückgerudert wird, dann wird die Causa nur verschlimmbessert. 2001 setzte die rot-grüne Koalition ein neues Prostitutionsgesetz durch. Es war das Herzstück des grünen Programms, nachdem so gut wie alle Minderheiten bereits bedient worden waren. Das neue Gesetz hat sich, freundlich ausgedrückt, nicht bewährt. Deutschland avancierte zum Bordell Europas und zur Drehscheibe für den Frauenhandel. Nun hat sich die CDU der Sache angenommen. Sie will, unter anderem, das Mindestalter für Prostituierte auf 21 Jahre festlegen und eine „Zuverlässigkeitsprüfung für Bordellbetreiber“ einführen.

Freier von Zwangsprostituierten sollen bestraft werden. Das alles kann nur mit erheblichem Verwaltungsaufwand umgesetzt werden. Wenn alles gut geht, könnten die Mitarbeiter der Atomkraftwerke, die demnächst geschlossen werden, auf Bordellbetreiber beziehungsweise Bordellkontrolleure umschulen, natürlich mithilfe der örtlichen Arbeitsämter, die auch Praktika in Bangkok und Surabaya bezahlen würden. Ein solches ABM-Programm hat es im Maßnahmenkatalog des Sozialstaats bis jetzt noch nicht gegeben.

Und dann wird es nicht mehr lange dauern, bis die Verlage nachziehen. „Das vegane Bordell“ und „Mehr Lust mit Tofu“ wären ein guter Anfang für eine echte Symbiose aus Safer Sex und gesunder Ernährung.

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