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Das Paradies, die Jugend und die Geschichtsbücher

Viktor Hermann

Kürzlich fragte ein vietnamesisches Mädchen vor 350.000 Teilnehmern des Weltfamilientreffens in Mailand den Papst, wie er sich denn das Paradies vorstelle. Das hätte so manchen anderen in Verlegenheit gebracht. Gibt es doch niemanden, der das Paradies - so es denn existiert - wirklich mit eigenen Augen gesehen hat und uns dann auch noch davon berichten kann.

Josef Ratzinger, als Benedikt XVI. sozusagen eine erste Autorität in Fragen Paradies, wusste eine rasche Antwort: Das Paradies stelle er sich so vor wie seine Jugend.

Nun mag der Mann an die Idylle der bayerischen Provinz gedacht haben, an die Liebe seiner Mutter, an eine intakte Familie, an Geborgenheit, Knödel und Schweinsbraten. Das kann man durchaus als paradiesische Zustände bezeichnen, nach denen man sich sehnt. Und wer würde sich nicht danach verzehren, noch einmal jung zu sein, relativ unbeschwert.

Dennoch muss man hoffen, dass dem vietnamesischen Mädchen niemals, und sei es nur aus Zufall, ein Geschichtsbuch in die Hände fällt, das die Mitte des 20. Jahrhunderts zum Gegenstand hat. Denn dann müsste es den Schock seines Lebens erfahren und vermutlich hoffen, niemals jenen Ort oder jenen Zustand zu erreichen, den man gemeinhin das Paradies nennt.

Josef Ratzinger ist Jahrgang 1927. Seine Jugend umfasst sozusagen die Zeit bis zu seinem 20. Lebensjahr, also bis 1947. Und sollte das vietnamesische Mädchen, das ja vermutlich über die europäische Geschichte nur wenig wissen kann, sich genauer erkundigen, müsste es lesen, was sich da alles zugetragen hat, in Europa und in der Welt.

Eine Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, Hyperinflation, Bürgerkriege, die Machtergreifung Hitlers in Deutschland, der Untergang der Demokratie. Es folgten Antisemitismus, die Errichtung von Vernichtungslagern, die Okkupation Österreichs, der Überfall auf Polen, der Krieg in Westeuropa, der Angriff auf Russland. Der Luftkrieg gegen England, der Eintritt der USA in den Weltkrieg provoziert durch den Angriff von Deutschlands Verbündetem Japan.

Das Mädchen müsste lesen von Not, Tod, Elend. Es würde erfahren, dass in diesem Krieg Millionen Menschen durch kriegerische Handlungen den Tod fanden, sechs Millionen Juden ermordet wurden, nur weil sie Juden waren, viele Millionen im Bombenhagel und durch Hunger zugrunde gingen.

Josef Ratzinger hat ein Bild verwendet, das sich selbst zerstört und alle Verheißungen des Paradieses ins Negative dreht. Schlimm, was ein unbedachtes Wort anrichten kann.



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