Der Papst, das Kondom und was von der neuerlichen Aufregung zu halten ist

22. November 2010


Zugleich ein Versuch, etwas zur Klärung der „Chose“ beizutragen

Dass die Medien Fehler machen, wissen wir, auch, dass sie manchmal übertreiben, so sehr, dass es einem Fehler im Ergebnis gleich kommt. Doch wenn ein Journalist Angela Merkel fragte, ob sie morgens gerne Brötchen isst, und sie antwortete mit einem klaren „Ja, was denn sonst!“, um dann einzuschränken, dass sie an manchen Tagen schon mal überlegt habe, ob sie nicht in ganz besonderen Fällen, etwa vor langen Kabinettssitzungen, ein Bircher-Müsli nehme solle, wenn jener Journalist diese Bemerkung alsbald zu veröffentlichen beabsichtigte (also: noch gar nicht veröffentlicht hätte), wenn man aber trotzdem in der Zeitung seiner Wahl läse: „Merkel verbietet Bäcker-Innung!“, würde man dann diese Schlagzeile – selbst unter Berücksichtigung des üblichen Seriositätsrabatts – nicht auch für etwas überzogen halten?

Der Vergleich mag hinken, doch ganz ähnlich mag es manchem Katholiken gegangen sein, als sich am Wochenende die Medien mit Sensationsmeldungen überschlugen, aufgrund einer Einlassung Papst Benedikts in einem (bislang unveröffentlichten) Interview, in Einzelfällen – der Papst nennt offenbar beispielhaft „männliche Prostituierte“ – könne der Gebrauch von Kondomen zum Schutz vor einer HIV-Infektion „ein erster Schritt sein auf dem Weg hin zu einer anders gelebten, menschlicheren Sexualität“. Der sich verwundert die Augen reibende Katholik nahm erstaunt zur Kenntnis, dass ihm dies als epochale Wende angeboten wurde und von einer historischen Neupositionierung in der Moraltheologie (oder der Einfachheit halber gleich: der Sexualmoral) die Rede war.

Nun sind Interviews nicht der Ort, an dem katholische Lehrmeinungen verkündet werden, schon gar keine „Wenden“ und „Neupositionierungen“. Doch mal ganz abgesehen davon, dass Status der Aussagen und die mediale Aufnahme und Verbreitung qualitativ und quantitativ in keinem guten Verhältnis stehen und einige den Unterschied zwischen „aus dem Nähkästchen“ und „ex cathedra“ systematisch unterschätzen, ist die Einlassung selbst es durchaus wert, einmal genauer untersucht zu werden. So möchte ich einige Hintergründe ausleuchten und zur Beachtung und Betrachtung anbieten, auch deshalb, weil ich mich von der blogözesanen Aufforderung, wenn möglich etwas zur Klärung der „Chose“ beizutragen, angesprochen fühle. Ich muss dazu allerdings etwas weiter ausholen.

Allgemeines. Biblische und moraltheologische Hintergründe

Die Aussage Papst Benedikts XVI. ist weder „historisch“ noch „sensationell“. Der in ihr angesprochene Gegenstand ist nicht „neu“.

I. Die Sache selbst (der spezielle Fall „Erlaubnis des Kondomgebrauchs zum Schutz vor AIDS“) ist nicht neu, sondern wird seit mindestens vier Jahren sehr wohlwollend diskutiert. 2006 erschien ein entsprechendes Vatikan-Gutachten. Ich komme unten auf dessen Rezeption zurück.

II. Die Aussage ist nicht „sensationell“. Sie entspricht vielmehr dem biblischen Grundsatz, Normen in einer bestimmten Weise auszulegen, die Christus uns vorgestellt und vorgelebt hat: in Liebe. Das bedeutet: in Gnade und Barmherzigkeit. Gnade und Barmherzigkeit richten sich immer auf den Einzelfall. Die Norm selbst bleibt davon unberührt.

Jesu lehrt uns diese neue Gerechtigkeit. Er will das mosaische Gesetz nicht abschaffen, sondern erfüllen. Damit gerät Er in den Verdacht, auch nicht besser zu sein als die alttestamentliche Väter-Generation. Schon die Pharisäer sahen hier eine Chance, Jesus in Widersprüche zu verwickeln und zu diskreditieren – entweder als Jude (wenn Er sich nicht an das Gesetz des Mose halten wolle) oder als Reformator (wenn er sich – ganz traditionell – doch an das Gesetz des Mose halten wolle).

Jesus selbst sagt, Er nicht gekommen, „um das Gesetz und die Propheten aufzuheben“, sondern „um zu erfüllen“ (Mt 5, 17). Und weiter: „Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich.“ (Mt 5, 18-19).

„Amen, ich sage Euch…“ – Es ist Ihm also wichtig, dass das Gesetz bestehen bleibt. In der Tat: Das Gesetz und die Propheten werden durch Christus nicht aufgelöst, sondern erfüllt. Die Frage ist: Wie erfüllt Christus das Gesetz? Die Antwort lautet: In Liebe! Jesus sagt einem Pharisäer (also einem, der sich mit dem Gesetz gut auskennt), dass „das ganze Gesetz samt den Propheten“ am Doppel-Gebot der Gottes- und Nächstenliebe „hänge“ (vgl. Mt 22, 34-40). Es hängt also ganz von der Liebe ab – darin besteht die Erfüllung. Und wer die Stelle in Mt 5 weiterliest, merkt sehr schnell, dass Jesus gleich darauf zu sprechen kommt, dass Er sich (im Geist der Liebe) eine Gerechtigkeit wünscht, die über die Buchstaben des Gesetzes weit hinausgeht (vgl. Mt 5, 20), ohne dass dadurch die Buchstaben des Gesetzes bedeutungslos würden.

Der entscheidende Wendepunkt in der Ethik Jesu ist also nicht die Geltung des Gesetzes selbst (die bleibt), sondern die Auslegung des geltenden Gesetzes in Gerechtigkeit als Liebe (das ist neu). Es steht bei der Auslegung eines Gesetzes – und das erkannte Jesus – immer Barmherzigkeit gegen Buchstabentreue. Die Barmherzigkeit überwiegt bei ihm, weil sie bei Gott überwiegt. Man kann sagen: Barmherzigkeit ist die Gerechtigkeit Gottes. Das begründet die Spannung zwischen Ihm und den Seinen auf der einen Seite und den Pharisäern auf der anderen Seite, die Jesus oft für ihren inhaltsleeren Formalismus gerügt hat.

Jesus kommt mit Seiner Ethik etwa zu dem Schluss, dass Heilen und Versorgen wichtiger ist als die Sabbatruhe, die im Dekalog immerhin an prominenter Stelle (3. Gebot) genannt wird und der in Exodus 20 genauso viele erläuternde Verse gewidmet sind (Ex 20, 8-11) wie Mord, Ehebruch, Diebstahl und Lüge zusammen (Ex 20, 13-16). Es ist also nicht so, dass Jesus keinen Respekt vor dem Sabbat gehabt hätte, sondern dass er abwägt. Es muss einen guten Grund geben, die Ruhe des siebenten Schöpfungstages zu brechen – eine Frau, die „seit achtzehn Jahren krank war“ (Lk 13, 11), ein Mann, „dessen Hand verdorrt war“ (Mk 3, 1) oder auch hungrige Jünger (Mk 2, 23-28). Fest steht in diesen Fällen: Barmherzigkeit ist wichtiger als Gehorsam dem Wortlaut einer Norm gegenüber, oder wie Jesus den Pharisäern mitteilt: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.“ (Mk 2, 27).

Eine besondere Zuspitzung im Streit der beiden Auslegungsschulen findet sich im Johannes-Evangelium, in der Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin (Joh 8, 1-11). Man muss dazu wissen, dass es Jesus mit dem Verbot des Ehebruchs sehr ernst ist. Es ist auch in Seinen Augen keineswegs eine Bagatelle, die schon wegen Geringfügigkeit straffrei bleiben muss. Vielmehr verschärft Er in gewisser Weise das Gesetz des Mose an diesem Punkt: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.“ (Mt 5, 27-28). Diese Verschärfung ist zugleich eine sehr lebensnahe Warnung nach dem Motto „Wehret den Anfängen!“ Jesus betrachtet die Tat auf der voluntaristisch-intentionalistischen Ebene („im Herzen“) und führt sie auf ihren eigentlichen Beginn zurück. In der Tat ist nicht der vollzogene Geschlechtsverkehr das eigentliche Problem, sondern der Wille, die Absicht, die zu ihm führt. Der lüsterne Blick ist der erste Schritt ins Verderben. Hier gilt es anzusetzen, bei der Einstellung, der Haltung. Jesus spricht hier in einer psychologischen Klugheit, die an Klarheit und Wahrheit das mosaische Gesetz weit übertrifft. Also: Für Jesus ist die Ehe ein hohes, kostbares Gut, so hoch und so kostbar, das nichts sie gefährden soll. Jesus wendet sich denn auch nicht gegen das Gesetz des Mose, das die Ehe ebenfalls schützen will, sondern gegen die Selbstgerechtigkeit derer, die es unbedingt anwenden wollen, die ohne Gnade sind – „hartnäckig“, wie Johannes schreibt (Joh 8, 7). Das Gesetz gilt und Steinigungen fallen auch nicht prima facie aus, doch beides wird in Beziehung gestellt zur Richter-Attitüde der Pharisäer und der Fehlbarkeit („Sündhaftigkeit“) des Menschen. Jesus geht es um die strengen Bedingungen, unter denen überhaupt nur an eine Anwendung des Gesetzes gedacht werden kann: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie.“ (Joh 8, 7). Wir sind alle Sünder, diese Einsicht wächst mit der Lebenserfahrung („Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten.“, Joh 8, 8). Wir sollten also nicht in einer absoluten Weise richten – und was könnte absoluter sein als die Todesstrafe. Das ist allein Gottes Sache. Jesus geht mit der menschlichen Hybris ins Gericht, in letztgültiger Weise über Menschen urteilen zu können. Er sprengt die engen Grenzen der Rechtsnorm-Rechtsfolge-Logik, die eine menschliche Denkweise kennzeichnet, in der es nicht mehr um „gut“ und „böse“ geht, sondern nur noch um „strafbar“, die daher nicht auszubrechen imstande ist aus dem Konnex von Schuld und Strafe, von Vergehen und Verurteilen – und in der Vergeben keine Rolle spielt.

Im Ergebnis steht: Das Gesetz bleibt – Ehebruch bleibt Ehebruch –, aber es siegt die Barmherzigkeit. Die Ehebrecherin wird als Sünderin nicht verurteilt (Joh 8, 11), wohl aber der Ehebruch als Sünde. So deutet Christus nach dem Gnadenerweis wieder zurück auf das Vergehen: „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ (Joh 8, 11). Damit bestärkt er das Gesetz, das jene Sünde verhindern soll. Die Ehebrecherin erhält ihre Bewährungschance – nicht gegen das Gesetz, sondern mit dem Gesetz. Das Gesetz bleibt (Mt 5, 17), aber es wird um den Aspekt der Gerechtigkeit (Mt 5, 20),vor allem aber um den Aspekt der Liebe erweitert, die sich in der tätigen Barmherzigkeit Jesu gegenüber der Ehebrecherin zeigt. Allgemein zeigt sie sich immer dort, wo unter bestimmten Umständen um Gottes und um des Menschen willen auf die buchstabengetreue Anwendung von Normen verzichtet wird.

III. Die Aussage ist nicht „historisch“. Moraltheologisch betrachtet ist nicht der 20. November 2010 das historische Datum, sondern irgendein Tag im 13. Jahrhundert, an dem Thomas von Aquin – ausgehend von der Grundannahme seiner metaphysischen Ontologie, der Mensch habe in seinem Dasein den Gegebenheiten seines Seins (also der natura humana) zu gehorchen – drei Grundsätze zur moralischen Beurteilung von menschlichem Verhalten formulierte, die fontes moralitatis (vgl. Sum Th I-II, 18-21):

1. Thomas von Aquin formuliert den Grundsatz, dass Handlungen zunächst von ihrem Wesen her zu beurteilen sind (was Thomas das „Objekt der Handlung“ nennt) und dass es dabei Handlungen gibt, die an sich (oder in sich) unmoralisch sind, die man also immer zu unterlassen hat – unter allen Umständen, etwa die Handlung „grundlos einen Menschen töten“. „Grundlos einen Menschen töten“ ist eine Handlung, die nicht gut sein kann. Thomas Grundsatz gilt für Handlungen, nicht für Sachen. Eine Sache kann nicht an sich schlecht sein, es kommt immer auf ihre Verwendungsweise an (man denke an ein Messer, mit dem man einen Apfel aufschneiden oder einen Menschen erstechen kann). Selbst wenn eine Sache für einen einzigen Zweck gemacht ist, hat man immer noch die Wahl zwischen dem Einsatz und dem Nichteinsatz der Sache. Es kommt also bei der Moralität des menschlichen Verhaltens auf die Handlung an, nicht auf die Sachen, die dabei benutzt werden. Der Thomist Martin Rhonheimer stellt dazu 2004 in einem „Tablet“-Aufsatz mit dem Titel „The truth about condoms“ mit Blick auf das Kondom fest: „There is no official magisterial teaching either about condoms, or about anti-ovulatory pills or diaphragms. Condoms cannot be intrinsically evil, only human acts; condoms are not human acts, but things.“

Also: Das Kondom zu verbieten ist etwa so sinnvoll wie das Messer zu verbieten. Papst Benedikt ist kein Thomist, aber das hat er sehr wohl im Blick. Es hilft nichts: Wir müssen uns schon stets die Handlung selbst anschauen, zunächst deren Objekt. Ist sie objektiv schlecht, ist sie zu unterlassen. Oft ist eine Handlung aber nicht an sich schlecht. Dann müssen wir, so Thomas, weiterschauen, zunächst auf den Willen und die Absicht, dann auf die Umstände der Handlung.

2. Thomas von Aquin formuliert den Grundsatz des voluntaristischen Intentionalismus’ als ethische und rechtliche Begründungsfigur für alle Handlungen, die ihrem Wesen, ihrem Objekt nach moralisch indifferent sind. Grundsätzlich entscheidet der „innere Wille“, die innerlich gewollte Absicht als das Ziel der Handlung über deren moralische Güte bzw. Strafbarkeit, nicht der äußere Vollzug oder die Folgen, die erhofft werden bzw. tatsächlich eintreten. Diese thomistische Auffassung wird von der kontinentalen Moralphilosophie der Neuzeit fortgeschrieben (man denke an die Gesinnungsethik Kants) und ging in unser Strafrecht ein (ein Mordversuch wird genauso behandelt wie ein Mord; die Intention des Täters entscheidet über die Qualifizierung der Tat als „Mord“, „Totschlag“, „Tötung in Notwehr“ und ist für das Strafmaß entscheidend).

Dass die Erwähnung von Wille und Absicht keine Redundanz darstellt, wird klar, wenn wir an die „Doppelwirkung“ von Handlungen denken, also daran, dass eine Handlung eine gute Wirkung und zugleich eine schlechte Nebenwirkung haben kann. Dann ist im Sinne des voluntaristischen Intentionalismus’ der „innere Wille“ als die „eigentliche Absicht“ vom „Mitwillen“ als der „uneigentlichen Absicht“ zu unterscheiden. Jener „innere Wille“ konstituiert nach Thomas das Ziel des Handelnden als Zweck der Handlung („finis operantis“), dieser „Mitwille“ das Ziel der Handlung als Mittel zum Zweck der Handlung („finis operis“). Wenn man z. B. einen Angreifer abwehrt („Notwehr“), dann geschieht dies durchaus in der „Absicht“, bestimmte Maßnahmen gezielt einzusetzen (Schläge, Tritte, Schüsse). Doch es fehlt dabei der „innere Wille“: Eigentlich will man nicht schlagen, treten oder schießen, man ist aber dazu gezwungen, um den Zweck der Handlung (den Selbstschutz) zu erfüllen. Das Schlagen, Treten und Schießen geschieht absichtsvoll, wird aber nicht gewollt, sondern nur „geduldet“, „zugelassen“ oder „in Kauf genommen“.

Der Zweck heiligt nicht die Mittel, aber es gibt eben Zwecke, zu deren Erreichung Mittel erforderlich sind, die als Nebenwirkungen der Handlung geduldet bzw. in Kauf genommen werden müssen. Freilich kommt es dabei auf die Art der Nebenwirkungen an. Sie dürfen den Zweck nicht konterkarieren. Für den bellum iustum-Topos (ein typischer Anwendungsfall der Doppelwirkungsproblematik) hat Thomas das deutlich gemacht und einen Krieg nur dann als „gerecht“ angesehen, wenn die Wiederherstellung des Friedens (nur darum geht es) unter Einsatz der „geringsten Mittel“ erfolgt. Nicht jedes Mittel zum Zweck darf einem Recht sein, schon gar nicht die Mittel, die um ihrer selbst willen gewollt, sondern nur die, die um des Zwecks willen geduldet werden.

„Innerer Wille“/„Mitwille“, „gewollt“/„geduldet“, „eigentlich“/„uneigentlich“, „Wirkung“/„Nebenwirkung“ – ist das nicht bloß eine spitzfindige Wortklauberei? Nein, denn es ist ein echter Unterschied in der Haltung – und nur die ist grundsätzlich entscheidend für die moralische Beurteilung der Handlung. Wer nur oder vornehmlich auf die Folgen schaut, sieht diesen Unterschied nicht – ein Toter ist tot, unabhängig davon, aus welchen Gründen er getötet wurde, ob seine Tötung die zweckhaft verfolgte Handlung selbst war oder ob sie eher „nebenbei“ erfolgte und wie sich der Täter dabei gefühlt hat, gut, schlecht oder indifferent. Man kann Mitmenschen hinsichtlich der eigenen Haltung täuschen, man kann sich sogar selbst belügen, doch Gott schaut ins Herz und erkennt die Haltung wie sie ist, nicht, wie sie scheint. Einer Ethik und einer Rechtskultur, deren Moralitäts- und Legalitätsurteile darauf basieren, wie gut sich Handlungen vor den Mitmenschen verkaufen lassen, wird mithin Thomas’ feine Unterscheidung in ihrer Sinnhaftigkeit verborgen bleiben. Wer jedoch daran glaubt, sich wegen seiner praeparatio cordis (Augustinus) einst vor Gott rechtfertigen zu müssen, wird ein Gespür für die Differenz von „wollen“ und „dulden“ entwickeln können.

Nun komme ich für den Fall der Kondomanwendung auf das oben angesprochene Vatikan-Gutachten von 2006 zurück. In einem Interview mit Pater Eberhard von Gemmingen SJ erläutert der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff im Mai 2006 die darin enthaltenen Überlegungen. Zunächst stellt er fest, was festzustellen ist: „Sicher ist es richtig, dass Enthaltsamkeit der beste und im übrigen auch der einzig wirklich sichere Weg darstellt, auch Kondome vermitteln ja keine hundertprozentige Sicherheit“, um dann die Frage aufzuwerfen, „was geschieht, wenn das eine Überforderung […] für Menschen darstellt“, ob „es dann überhaupt keinen Ratschlag [gebe], den man ihnen geben kann“, ob es „dann sozusagen die zweitbeste Möglichkeit, das geringere Übel [gibt], das dann immer noch der Gebrauch eines Kondoms darstellt“.

Jetzt kommt das – im thomistischen Sinne – entscheidende Argument der Intention: „Da ist auch auf der Basis der kirchlichen Morallehre über die künstliche Empfängnisregelung an sich nicht zu sehen, was man [gegen den Gebrauch des Kondoms, J.B.] einwenden sollte, denn die Intention einer solchen Regelung, dass man dabei zum Schutz vor einer Ansteckung ein Kondom benützt, ist ja nicht empfängnisregelnder Art; da geht es ja nicht darum, eine mögliche Empfängnis zu unterdrücken, sondern sich vor Ansteckung zu schützen. Das hat eine therapeutische Zielsetzung, und das ist auch auf der Basis der bisher geltenden kirchlichen Morallehre an sich eine andere Art von Handlung als eine künstliche Empfängnisregelung.“ Schockenhoff fügt an: „So wie es die therapeutische Sterilisation als erlaubte Handlung gibt, wenn sie wirklich aus medizinischen Gründen erforderlich ist, so haben wir es auch hier mit einem anderen Handlungstyp zu tun. Denn für die moralische Bewertung einer Handlung ist ja die intentionale Struktur, also die Ausrichtung des Willens, was beabsichtigt ist mit der Handlung, maßgeblich und nicht der äußere Vollzug.“ Thomas pur! Und damit ganz auf der Linie der katholischen Moraltheologie.

Noch einmal: Es geht um die Zielsetzung – Verhütung der Empfängnis oder Schutz vor Ansteckung. Als Mittel zum Zweck der Empfängnisverhütung ist das Kondom nach wie vor im Rahmen der katholischen Moraltheologie kein Thema. Es geht einzig um den Schutz vor HIV/AIDS. Denn ein Kondomgebrauch, der willentlich und absichtlich zur Verhütung erfolgt, widerspricht dem Wesen der menschlichen Sexualität, die gefühlte Freude, gepflegte Beziehungsvertiefung und die Offenheit für Fortpflanzung gleichermaßen beinhaltet. Mit Thomas gesprochen: Sex besteht objektiv aus Lust, Liebe und Leben, und Sexualität hat Lust, Liebe und Leben wesentlich zum Inhalt und willentlich zum Ziel. Die katholische Morallehre vertritt im Anschluss daran die Auffassung, dass dieses Ziel nur in der Ehe wirklich zu erreichen ist. Wenn eines aus diesem harmonischen Dreiklang kategorisch abgelehnt wird (und wer verhütet, lehnt das „Leben“ als Bestandteil der Sexualität ab), ist die Sexualität nicht gut, weil sie voluntaristisch und intentionalistisch nicht im vollen Einklang mit der ontologischen Phänomenologie der natura humana steht: der Mensch, der willentlich und absichtlich verhütet, verfehlt sein Mensch-Sein. Von vorneherein zu sagen (und nichts anderes sagt der Mensch, der verhütet): „Ich bin nicht bereit, Verantwortung zu tragen, wenn in der Konsequenz aus Lust und Liebe neues Leben entstehen sollte.“, kann nicht als gut betrachtet werden, weil es gegen die menschliche Natur gerichtet ist. Im übrigen: Was für eine „Lust“ soll das sein? Und was für eine „Liebe“? Doch nur eine bedingte Liebe, eine geistig-seelisch kastrierte Lust! Verhütung geht am Wesen der Sexualität – so, wie sie von Gott gestiftet ist, weil sie so und nicht anders dem menschlichen Sein gut tut – vorbei. Und am Wesen von Ehe und Familie, die Papst Benedikt als für das „Leben offene Liebesgemeinschaft“ beschreibt. Das gilt – ohne Wenn und Aber.

Das Kondom ist also nach dieser Auffassung immer dann erlaubt, wenn es als ein gewolltes Mittel zum Zweck des Schutzes vor einer HIV-Infektion zum Einsatz kommt und die verhütende Wirkung des Kondoms als „unerwünschte Nebenwirkung“ lediglich zugelassen wird. Inwieweit das Kondom auch ein geeignetes Mittel zur Bekämpfung der AIDS-Pandemie ist und ob es nicht geeignetere Mittel gibt, die die unerwünschte Nebenwirkung in dieser Weise gar nicht erst aufbringen, soll weiter unten behandelt werden.

3. Thomas von Aquin formuliert den Grundsatz, dass neben dem Wesen und der Absicht auch die Umstände der Handlung zu berücksichtigen sind. Dazu gehört, dass man Zwangslagen angemessen berücksichtigt. Manchmal hat man eben nur die Wahl „zwischen Pest und Cholera“. In solchen Fällen ist das „geringere Übel“ zu wählen, von dem oben bereits in der Stellungnahme Schockenhoffs die Rede war. Denn die Handlung ist die bessere, die das „geringere Übel“ bezweckt, was nicht bedeutet, dass sie damit gut ist. Die moralische Beurteilung der Handlung als solche ändert sich nicht, doch die Umstände können derart sein, dass man einem Menschen zu dieser Handlung rät, auch wenn man sie – unter anderen Umständen – moralisch verurteilen müsste. Diese fraglich Handlung kann ein gangbarer Weg sein – wenn es keinen anderen Ausweg gibt. Peter Thomas bringt dazu in seinem Kommentar zur Kondom-Frage einige sehr gelungene Beispiele, anschaulich auch Hedda Christine Ackers Bankräuber-Beispiel.

Ein kurzes Fazit aus diesen moraltheologischen Erwägungen. Im Einzelfall (Bedingung 1) darf bei Vorliegen einer entsprechenden Intention (Bedingung 2) ein Kondom verwendet werden, wenn die Nichtverwendung das größere Übel wäre (Bedingung 3). Für den Fall „Erlaubnis des Kondomgebrauchs zum Schutz vor AIDS in der Ehe“ ist das bekannt, auch der breiteren Öffentlichkeit. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, betonte in einem Interview mit dem Berliner „Tagesspiegel“ im März 2009: „Und auch das gehört zu einer differenzierten[sic!] Wahrnehmung: Dass die katholische Kirche nie gesagt hat, dass man kein Kondom in der Ehe benutzen darf, wenn einer der beiden Ehepartner Aids hat.“ Insoweit ist die Rede davon, der Papst erlaube erstmals den Gebrauch von Kondomen, grob irreführend. Der Papst nennt nun lediglich einen anderen Fall, den ich mal „Erlaubnis des Kondomgebrauchs zum Schutz vor AIDS für besonders stark gefährdete Personengruppen“ nennen möchte. Der Papst heißt damit weder den Kondomgebrauch als Mittel zur Empfängnisverhütung, noch die Prostitution gut. Es sagt (mit Thomas) nur, dass ein „männlicher Prostituierter“, der mit dem Kondomgebrauch die Absicht verfolgt, sich und andere vor einer HIV-Infektion zu schützen, besser handelt als wenn er durch den Nichtgebrauch des Kondoms sich und andere gefährdete. Ein Prostituierter, der ein Kondom benutzt, handelt besser, aber er handelt nicht gut. Der Kondomgebrauch kann im Einzelfall sinnvoll sein, als Lösung des AIDS-Problems taugt er nicht. Dazu unten mehr.

Zusammengefasst: Betrachtet man das Verhältnis von Gesetz und Gnade und den Grundsatz, dass Barmherzigkeit die Gerechtigkeit Gottes ist (biblische Grundlagen) und beachtet man zudem das Verhältnis von Objekt und Umstand, von Zweck, Mittel und Nebenwirkung im Anschluss an Thomas von Aquin (moraltheologische Grundlagen), kennt man zudem die Diskussion im Vatikan, wie sie seit Benedikts Wahl im April 2005 in Gang ist und sich in dem Gutachten von 2006 sowie zahlreichen Stellungnahmen (Rhonheimer, Schockenhoff, Zollitsch) ausdrückt, dann hätte man auch ohne die neuerliche Einlassung des Heiligen Vaters darauf kommen können, dass er und mit ihm die Kirche der Ansicht ist, in Einzelfällen könne der Gebrauch von Kondomen zum Schutz vor einer HIV-Infektion „ein erster Schritt sein auf dem Weg hin zu einer anders gelebten, menschlicheren Sexualität“ sein.

II. Spezielles. Kondome und AIDS

Benedikts Einlassung liegt die nicht-subjektivistische Subjektivität der christlichen Ethik im Rücken, die ein Gleichgewicht sucht zwischen den Regeln, die die Objekte beinhalten und daher gelten sollen („nicht-subjektivistisch“), und den besonderen Umständen, die ein (vermeintliches) Abweichen (in Wahrheit: Erfüllen) der Regel im Einzelfall angezeigt sein lassen, durch liebevolle Hinwendung zum Menschen („Subjektivität“). Aus dieser Behandlung des Einzelfalls wiederum darf kein Rückschluss auf die prinzipielle Geltungskraft der Regel erfolgen.

Wenn auch im Einzelfall ein Kondom verwendet werden darf, so ist und bleibt doch die Einsicht, dass das Kondom das AIDS-Problem nicht löst. Deshalb ist eine Normativität, die allein oder größtenteils auf das technische Mittel „Kondom“ setzt (also willentlich und absichtsvoll), der falsche Weg. Diese Auffassung hat sich durch die Bemerkung des Papstes nicht geändert. Es gilt nach wie vor die Aussage Benedikts, dass nicht Kondome die erste Wahl bei der AIDS-Bekämpfung sind, insbesondere wenn es um die Verhinderung von Neuinfektionen geht, sondern Keuschheit und Treue. Diese hochvernünftige menschenfreundliche Auffassung ist dabei nur dann ein medienträchtiger Skandal, wenn der Papst sie vertritt. An der Riege professioneller Kirchenkritiker, die keine vermeintliche Chance zur Papstschelte ungenutzt verstreichen lässt, scheint indes völlig vorbeizugehen, dass dies seit Jahrzehnten auch die Position der wichtigsten katholischen Hilfswerke sowie zahlreicher säkularer Einrichtungen in der AIDS-Bekämpfung ist.

Das bischöfliche Hilfswerk Misereor etwa teilt den Standpunkt des Papstes: „Viele Menschen in Europa verbinden mit dem Schutz vor AIDS vorschnell Kondomkampagnen. Wer aber meint, unter den Lebensbedingungen der Armutsregionen wären sie das Mittel in der AIDS-Bekämpfung, greift viel zu kurz. Die Erfahrungen unserer Partner in Afrika, Asien und Lateinamerika und die Erfolge der gemeinsamen Projekte zeigen uns, dass ein wirksamer Schutz vor AIDS anders, das heißt ganzheitlich, ansetzen muss“. Das UN-Hilfswerk UNESCO und die Weltgesundheitsorganisation WHO propagieren den so genannten „ABC-Ansatz“, bei dem A (=abstinence; Enthaltsamkeit) und B (=behavior; Verhalten, also Treue; einige setzen für B „be faithful“) für vorrangig gegenüber C (=condoms; Kondome) erachtet werden. Die größten Erfolge erreicht man mit A, dann mit B und erst dann – als ultima ratio, in Einzelfällen, mit der oben skizzierten Argumentation – mit C. Und vor einigen Monaten haben führende AIDS-Forscher im Kampf gegen die Krankheit zur zeitlich befristeten sexuellen Abstinenz aufgerufen, weil sie, wie „Die Welt“ im Juni 2010 schrieb, meinten, „dass eine sexfreie Zeit die Zahl der Neuinfektionen grundlegend verringern könnte“, denn die Wissenschaftler hatten „herausgefunden, dass ein neu infizierter Aids-Kranker die Krankheit meist innerhalb eines Monats nach der Ansteckung überträgt“. Ergo: „Eine Abstinenz könnte die Quote der Neuinfektionen um 45 Prozent senken.“

Einen eindrucksvollen Beleg für die These, dass es bei der AIDS-Bekämpfung vor allem auf A und B ankommt, liefert Uganda. Das Land hatte in den 1980er Jahren vergeblich versucht, das AIDS-Problem „technisch“, also mit der forcierten Abgabe von Kondomen zu lösen, gesponsert durch europäische Entwicklungsorganisationen, für die C das „A und O“ der AIDS-Bekämpfung darstellt. Erst durch eine von der katholischen Kirche sowie anderen religiösen Gemeinschaften unterstützte Kampagne für eine Veränderung des Sexualverhaltens, mit der darauf hingewirkt wurde, dass der erste Geschlechtsverkehr später stattfindet und Sex außerhalb einer festen Beziehung seltener geschieht, konnten in den 1990er Jahren die unverbindlichen Sexualkontakte um 60 Prozent und die AIDS-Quote um 70 Prozent gesenkt werden, wie sie Zeitschrift „Science“ 2009 schrieb. Andere Länder der Region, die nur auf Kondome gesetzt hatten, konnten, so „Science“, keinerlei Erfolg verbuchen. In einem aktuellen Forschungsbericht von Marcella M. Alsan und David M. Cutler („The ABCDs of Health: Explaining the Reduction in AIDS in Uganda“, Juli 2010)  wird diese Tendenz bestätigt. Aus dem Abstract des Papers geht hervor, dass vor allem A und B den Erfolg brachten („Among young women, who experienced the greatest decline in HIV prevalence, the most important component was delaying sexual debut, accounting for 57 percent of the drop in HIV prevalence.“) und C nur einen etwa halb so großen Effekt in einer viel kleineren Bevölkerungsgruppe bewirkte („Condom use by high risk males also played a significant role, accounting for 30 percent.“). „High risk males“ – jene Gruppe also, an die Benedikt mit der beispielhaften Nennung „männlicher Prostituierter“ dachte. – Heute hat Uganda übrigens mit 4 Prozent eine der niedrigsten AIDS-Raten des afrikanischen Kontinents.

Grundsätzlich scheint die Tatsache, dass die Zahl der Katholiken und die Zahl der AIDS-Kranken in Afrika negativ korreliert, weitgehend unbekannt zu sein. Folgt man den Statistiken der Zeitschriften „Komma“ und „ideaSpektrum“, so erkennt man: In den Ländern, in denen der Katholikenanteil bei unter 5 Prozent liegt, liegt der Anteil der HIV-Infizierten bei über 30 Prozent (Swaziland: 43 Prozent Infizierte, 5 Prozent Katholiken, Botswana: 37 Prozent, 4 Prozent), in den Ländern, in denen der Katholikenanteil bei unter 10 Prozent liegt, liegt der Anteil der HIV-Infizierten bei über 20 Prozent (Simbabwe: 25 Prozent Infizierte, 8 Prozent Katholiken, Südafrika: 22 Prozent, 6 Prozent). Dort hingegen, wo der Katholikenanteil bei über 10 Prozent liegt, liegt der Anteil der HIV-Infizierten bei unter 20 Prozent (Sambia: 17 Prozent Infizierte, 26 Prozent Katholiken, Malawi: 14 Prozent, 19 Prozent). Und dort schließlich, wo der Katholikenanteil bei über 30 Prozent liegt, liegt der Anteil der HIV-Infizierten bei unter 5 Prozent (Ruanda: 5 Prozent Infizierte, 47 Prozent Katholiken, Uganda: 4 Prozent, 36 Prozent). Die Daten legen den Schluss nahe: Je mehr Katholiken, desto weniger AIDS. Auch wenn solche Fakten die eigene Meinung so sehr stören, dass man sie am liebsten vernachlässigte, ganz wegwischen sollte man sie nicht.

Der Papst warnt eindringlich davor, das ABC aus Gründen der Leichtfertigkeit und in einer hedonistischen Lebensweise, die weder Rücksicht auf andere noch auf sich selbst nimmt, auf den Kopf zu stellen: erst C, dann B und dann – wenn überhaupt – A. Die katholische Kirche erinnert an die Bedeutung von A und B, während viele nur auf C setzen, obwohl nachweislich die größten Erfolge mit A, dann mit B und schließlich mit C erzielt werden können. Das C als „Allheilmittel“ führt in der Tat eher zu einer Verschlimmerung des Problems, wie der Papst auf seiner Afrika-Reise 2009 zu bedenken gab. Auch dafür gibt es einen traurigen Beleg: die Stadt Washington DC. Im „Schwarzwälder Boten“ war unter der Überschrift „Die Hauptstadt des AIDS“ im März 2009 zu lesen, dass 3 Prozent der Bevölkerung Washingtons mit dem HI-Virus infiziert sein soll. „Die tatsächliche Zahl liegt noch deutlich höher“, wird Bürgermeister Adrian Fenty zitiert, und die AIDS-Beauftragte der Stadt, Shannon Hader, meint: „Unsere Ansteckungsrate ist schlimmer als die in Westafrika.“ Tatsächlich: Um 22 Prozent ist die Zahl der Infizierten seit 2007 gestiegen. Man stehe vor einem Rätsel wie dies trotz der kostenlosen Abgabe von Kondomen geschehen konnte. Vielleicht sollte man der Stadtverwaltung von Washington DC die Telefonnummer des Bischofs von Uganda verraten. Der Grund für eine solche Überlegenheit von A und B gegenüber C ist im übrigen sehr einfach: das verbleibende Risiko, das bei A und B 0 Prozent, bei C aber etwa 10 Prozent beträgt, folgt man „Making condoms work for HIV prevention“, einer Studie des Joint United Nations Programme on HIV/AIDS (UNAIDS) aus 2004, in der vier zwischen 1993 und 2002 durchgeführte wissenschaftliche Studien ausgewertet werden. Schaut man sich die Studien genauer an, merkt man schnell, dass UNAIDS sich an der optimistischsten orientiert. Im Einzelnen lauten die Ergebnisse: Senkung um 69 Prozent, 80 Prozent, 87 Prozent bzw. 93 Prozent. Das macht im Durchschnitt 82,25 Prozent. Die jüngste Studie aus dem Jahr 2002 von Weller und Davis ermittelt eine Senkung von 80 Prozent, was einem Restrisiko von 20 Prozent entspricht. Das impliziert den Unterschied zwischen „safe“ und „safer“. Man muss kein Stochastiker sein, um angesichts dieser Daten den Kondom-Werbeslogan „Gib AIDS keine Chance“ (Hervorhebung J.B.) für problematisch zu halten, suggeriert er doch 100-Prozent-Sicherheit und 0-Prozent-Risiko. Kondome verschlimmern mithin nicht insoweit das Problem, als ihre Anwendung das Risiko einer HIV-Infektion gegenüber der Nichtanwendung erhöhte (wahr ist im Gegenteil, dass sie es sehr stark verringert), sondern insoweit, als man meinen könnte, sie verringere es auf 0 Prozent. Damit stellt sich das Gefühl einer Sicherheit ein, die nicht da ist. Das ist das Problem.

Die Lösung liegt in der Tat vielmehr in einem „spirituellen und menschlichen Erwachen“ und der „Freundschaft für die Leidenden“, von der Benedikt spricht. Die Freundschaft besteht in der tätigen Nächstenliebe (jeder vierte afrikanische AIDS-Kranke wird in katholischen Einrichtungen versorgt), das Erwachen in der Besinnung auf Enthaltsamkeit und Treue. Das ist nicht leicht, aber möglich. Der Sexualtrieb liegt zwar in der Natur des Menschen, doch diese Natur ist nicht nur biologischer Art, sondern kennt die Vernunft und den Willen als wirksame Regulative. Genau das meint Thomas von Aquin mit natura humana, genau darauf spielt Papst Benedikt XVI. an, wenn er von „Humanisierung der Sexualität“ spricht.

Die katholische Morallehre zeigt sich auch am 20. November 2010 stabil und von einer über die Jahrhunderte geprägten theologischen Tradition bestimmt, in deren Bahnen sie sich konsistent und stringent weiterentwickelt. So wie seit 2000 Jahren. Kein Grund zur Aufregung!

(Josef Bordat)

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